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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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sicheren Abstand streckte ich den Arm aus und drehte feige die Jalousie wieder ein klein wenig auf.
    »Fred …? Hallo …?« Ich konnte mich nicht mehr erinnern, ob Peter etwas gesagt hatte, worauf er eine Antwort erwartete. Hallo, hallo, du hörst mich vielleicht noch, aber ich kann dich nicht mehr hören … Ich hielt den Hörer vom Ohr weg und überlegte, was ich tun sollte. Unten verschwand gerade Titia de Bildes Kopf aus meinem Blickfeld.
    »Ja?«, sagte ich; es war mehr ein unwillkürlicher Laut als eine Frage oder die Bestätigung meiner Anwesenheit.
    »Fred, ich muss dir was sagen. Ich war doch schon die ganze Zeit immer so müde, weißt du noch? Nun, ich habe mal alles checken lassen, und es ist die Leber. Es ist schon zugroß für eine Operation, Montag fange ich mit der Chemo an.«
    Es klingelte an der Haustür. Hatte Peter es auch gehört? Natürlich brauchte ich nicht gleich aufzumachen, es war noch früh und außerdem Samstagmorgen, es war eigentlich eine ziemliche Unverschämtheit, Leute an ihrem freien Tag wegen nichts und wieder nichts zu belästigen. Ich ging mit dem Hörer am Ohr so leise wie möglich die Treppe hinauf, um mir den Morgenmantel aus dem Badezimmer zu holen.
    Etwas in mir hatte schreckliche Lust, die Tür einfach in der Unterhose zu öffnen, es war eine nur schwer zu widerstehende Versuchung. Den statistischen Angaben zufolge hatte das Nilpferd seit Menschengedenken keine Herrenunterhose mehr gesehen, die letzte hatte sie in ihren ersten Lebensjahren zu Gesicht bekommen: Sie befand sich direkt über dem Rand der Wiege und gehörte ihrem Vater, der sich mit der Hand seine feuchten und behaarten Eier kratzte und sich den Kopf zerbrach, wie aus diesen nämlichen Eiern so ein Nilpferdjunges hervorgehen konnte.
    Ich nahm den Morgenmantel vom Haken und steckte einen Arm in den Ärmel, was etwas schwierig war, weil ich in der anderen Hand immer noch das Telefon hielt.
    »… weil man keinen Moment daran denkt, es könnte einen selber treffen«, hörte ich Peter Bruggink sagen. »Es passiert immer nur anderen. Na ja, bis vor zwei Wochen. Es ist schon merkwürdig, aber wenn man so etwas zu hören bekommt, glaubt man erst, es gehe nicht um einen selbst, sondern um jemand anderen …«
    Ich wechselte den Hörer von der einen Hand in die andere, und es gelang mir schließlich, den Morgenmantel anzuziehen, ohne die Treppe hinunterzufallen.
    »… es heißt ja dann immer, man genießt alles viel intensiver, wenn man gerade sein Todesurteil bekommen hat, alles Quatsch …« In dem Moment klingelte es wieder, etwas länger, aber nicht wirklich verärgert oder ungeduldig. Titia de Bilde hatte schon von vornherein Angst, mich auf die Palme zu bringen, und ich fühlte ein Kichern in mir aufsteigen, das nicht zu unterdrücken war.
    »Was?«, sagte Peter.
    »Hallo, Peter …«
    Am anderen Ende der Leitung war es still. Ich hatte die Tür erreicht, die ins Treppenhaus führte, und schloss sie auf.
    »Es hörte sich an, als hättest du gelacht«, sagte Peter.
    »Ja?« Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, Titia de Bilde nach oben zu lassen, wie ich es mir vorgenommen hatte, geschweige denn in unsere Wohnung. Ich ging die Treppe hinunter, klemmte mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr und knotete den Gürtel meines Morgenmantels zu.
    »Na und?«, fragte Peter.
    »Na und was?«
    »Hast du wirklich gelacht, oder habe ich mich geirrt? Ich meine, die Sache ist nicht wirklich komisch, und ich bin selbst schon gar nicht mehr in der Stimmung dazu, wie du vielleicht verstehen wirst.«
    Noch drei Stufen bis zur Haustür; ich holte tief Luft. »Hör mal, Peter, es kommt im Moment nicht so gelegen. Es stehen Leute vor der Tür, die ich nicht warten lassen kann. Ich melde mich bei dir, okay?«
    Weil es am anderen Ende der Leitung still blieb, drückte ich auf die rote Taste und steckte das Telefon in eine Tasche des Morgenmantels. Ein paarmal fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar und schloss die Tür auf.
    Ich hatte geglaubt, Titia de Bildes Gesicht wäre mir noch so gut in Erinnerung, dass ich es sozusagen nachzeichnen könnte, mit allen Unebenheiten, geplatzten Adern, Beulen und Flecken an der richtigen Stelle, aber ich bekam doch noch einen Mordsschreck. Vor gar nicht so langer Zeit hatte dieses Gesicht mich an eine halb aufgepumpte Luftmatratzeerinnert, aber an diesem Samstagmorgen sah es so aus, als hätte jemand die Luftmatratze ein paarmal mit Gewalt zusammengerollt, oder eher, als hätte jemand die Geduld

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