Odessa Star: Roman (German Edition)
Stunden die richtige Zeit anzeigt. Und der andere war wahrscheinlich Bertje Wix. Der hieß nicht wirklich so, es war ein Spitzname, weil er immer so abgewichst aussah, er konnte die Finger nicht von sich lassen, verstehst du, jedenfalls wurde das gemunkelt. Ein echtes Weibsstück aus Fleisch und Blut kriegst du jedenfalls nicht mit so einer Visage, also wird es schon stimmen. Aber egal, sollte Tommy noch mal vorbeikommen, was ich bezweifle, dann grüß ihn schön von mir. Sag ihm, wenn er mehr erfahren möchte, kann er mich jederzeit anrufen.«
Ich starrte Max an. In dem Moment kam eine Straßenbahn der Linie 5 um die Ecke des Roelof Hartplein, mit so viel Radau, dass wir beide eine Zeit lang schwiegen.
»Aber …«
»Herrgott noch mal, guck nicht so verdattert«, lachte Max. »Das ist Amsterdam. Auch ’ne Art stehen gebliebener Uhr, wenn du so willst. Typen wie Tommy Musampa, die wollen alle einen Informanten aus dem Milieu, es verschafft ihnen Status, verstehst du, wenn sie Kollegen wie Bertje Wix gegenüber so tun können, als wüssten sie mehr als die anderen. Schau, Bertje Wix weiß echt nix – vielleicht hat er da übrigens seinen Spitznamen her, jetzt, wo ich darüber nachdenke –, aber solche indonesischen Typen wie Musampa, denen ist ja eine Karriere auch nicht gerade in die Wiege gelegt, die wollen höher hinaus, und wenn es sein muss hintenherum. Es ist echt zum Schießen, wie die Polypen sich alle darum rangeln, wer den »höchsten« Informanten hat. Na ja, an mir hat Tommy jedenfalls in dieser Hinsicht den Richtigen, ich meine, einen, der sich sehen lassen kann. Also werfe ich ihm ab und zu etwas hin, natürlich nichts, was wirklich etwas zur Sache tut, aberdoch etwas, womit man als einfacher Polizist Staat machen kann. Im Fall des armen Französischlehrers zum Beispiel, mir fällt jetzt sein Name nicht ein, da habe ich dafür gesorgt, dass Musampa als Erster vor Ort war. Alles in allem bringt es zwar nicht viel, macht aber manchmal gerade den kleinen Unterschied, wenn man über Rot gefahren ist zum Beispiel, denn solche Sachen vergessen die nicht so leicht.«
Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare plötzlich aufstellten. Was, wenn es Max gewesen war, der Musampa den Tipp gab, Ermittlungen nach dem Verschwinden einer alten Frau in der Pythagorasstraat einzuleiten? Gleich darauf schüttelte ich den Kopf. Aber das war lächerlich, ich hatte ja selber die Polizei angerufen. Doch vielleicht war es kein Zufall, dass ausgerechnet Musampa und sein unausgeschlafener, nicht stotternder Kollege auf diesen Fall angesetzt worden waren; vielleicht war es kein Zufall, dass der Fall bis heute nicht aufgeklärt war.
»Was hast du?«, fragte Max.
»Was? Ich? Nichts, ich …«
»Du stöhnst hier rum und schüttelst dauernd den Kopf. Wenn du aufs Klo musst, hast du meine Erlaubnis.«
»Ach was, mir ist nur warm«, sagte ich.
Max schaute mich an; dann winkte er der Kellnerin. »Hab ich dir das schon erzählt?«, fragte er und steckte sein Handy weg. »Wenn du es schon kennst, musst du es sagen. Es ist ein paar Jahre her, ich saß mit Richard und noch ein paar Freunden auf einer Terrasse in der P. C. Hooftstraat, nur so zum Quatschen und Biertrinken, da radelt auf einmal der Premier vorbei, Mensch, wie hieß er doch gleich, Wim Kok, genau der, ganz gemütlich urholländisch auf dem Fahrrad, du kennst das, so von wegen: wir benehmen uns ganz normal, das ist schon verrückt genug, und hinter ihm her schlingert auch noch der brave Bürgermeister, bisschen großspurig, aber doch eine ganz nette Visage, du weißt schon, der Patijn, Schelto Patijn.«
Die Kellnerin war inzwischen an unseren Tisch gekommen, und Max hielt ihr einen Hunderter hin.
»Und dann waren natürlich noch mehr solcher Typen mit von der Partie, alle genauso stinknormal auf ihrem Fahrrad wie die großen Jungs, man konnte sehen, dass sie eine echt gemütliche Orientierungsrunde durch die Hauptstadt drehten. Und weißt du, was das Verrückte war: Sie machten vor allem den Eindruck, dass sie nicht den geringsten Schimmer hatten, wo sie sich befanden. Weder in welchem Land noch in welcher Stadt und schon gar nicht in welcher Straße, wenn du verstehst, was ich meine. Es hatte etwas Rührendes, etwas Entwaffnendes, der ergraute Kok, dem eigentlich seine doppelte Käsestulle immer noch lieber war als ein Mahl bei einem Gläschen Wein, wie er da fast froh durch die P. C. Hooftstraat radelte, und der brave Bürgermeister hinter ihm her, wie aus einer
Weitere Kostenlose Bücher