Odessa Star: Roman (German Edition)
Fernsehserie aus den Fünfzigern – das war alles so ungeheuerlich, so haarsträubend naiv, verstehst du? Ich glaube, Richard oder einer der anderen hat noch das Glas gehoben und »He, Wimchen!« oder so was gerufen, und der arme Mann hat sich fast zu Tode erschreckt, hat dann aber brav zurückgewinkt. Später haben wir noch zueinander gesagt, wenn man sich diese Typen anschaut, die unser Land regieren, wird einem erst so richtig bewusst, wie groß der Spielraum ist, den man hat, und was man sich hier alles erlauben kann, ohne dass je ein Hahn danach kräht.«
Er steckte das Wechselgeld ein und gab der Kellnerin einen Zehner. Bevor er aufstand, suchte er erst links und rechts die Van Baerlestraat ab.
»Mir ist vor Kurzem auch was Merkwürdiges passiert«, sagte ich, aber Max zwängte sich schon zwischen den Tischen hindurch nach draußen.
»Wir hatten eine marokkanische Putzfrau«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ich dir das schon mal erzählt habe …«
Max ging mit großen Schritten Richtung Museumplein; da ich nicht wusste, ob er davon ausging, dass ich ihn noch ein Stück begleite, oder ob er das als lästige Verfolgung sehen würde, hielt ich erst mal einen halben Meter Abstand.
»Ja, und die ist nach dem Sommer einfach nicht mehr zurückgekommen. Und vor ein paar Wochen steht auf einmal ein Marokkaner vor der Tür, der behauptet, er sei ihr Bruder. Ob wir etwas von Fatima gehört hätten – so heißt die Schwester. Sie hatte demnach gar nicht so lange Urlaub in Marokko gemacht, wie wir angenommen hatten. Und jetzt ging er bei allen Leuten vorbei, bei denen sie gearbeitet hat, ob sie mehr wüssten.«
Ohne sein Tempo zu drosseln, nahm Max sein Handy und wählte eine Nummer.
»Und weißt du, was komisch ist«, sagte ich schnell. »Die ganze Zeit denke ich: Das Gesicht kennst du. Diesen Bruder hast du schon mal irgendwo gesehen. Und auf einmal wusste ich es. Im Kino! Im Calypso, wo wir uns in der Pause von Deep Impact getroffen haben. Es war der Marokkaner, der versucht hat, Sylvia ihre Tasche zu stehlen, und dem du eine in die Fresse gehauen hast …«
Max blieb stehen; er hielt das Handy ans Ohr, ließ dann aber die Hand wieder sinken.
»Das ist doch komisch!«, sagte ich. »Das ist doch ein Wahnsinnszufall, oder? Ich meine, wie groß ist die Chance, dass so was tatsächlich passiert?«
Max sah mich an; einen Moment glaubte ich, einen Anflug von Ironie in seinem Blick zu bemerken, hinterher dachte ich, dass es eher Mitleid war.
»Vor ein paar Jahren hätte ich noch gesagt: die Wahrscheinlichkeit liegt bei eins zu zehn Millionen«, sagte er. »Aber bei dem Tempo, mit dem sich das Pack hier vermehrt, sage ich jetzt: bei eins zu drei.«
»Viel Spaß noch«, sagte ich zu David und Nathalie und stellte die Weißweinflasche zwischen sie auf den Tisch.
Ich zog mich hinter eine mannshohe Konifere zurück, um kurz zu verschnaufen, bevor ich mich wieder ins Getümmel warf. Den Weg zum Haus verstellte mir mein Schwager, wie ich durch den grünen Nadelvorhang feststellte. Mein Schwager war ein lästigerer Fall. Schon während des Umbaus hatte er in seiner ganz eigenen, nebulösen und ungreifbaren Weise durchschimmern lassen, dass er »mehr wusste« – anfangs dachte ich noch, er meinte es »witzig« oder »ironisch«, aber je öfter er darauf zurückkam, desto mehr ging er mir auf die Nerven.
»Diese Freunde von dir«, sagte er beispielsweise nach dem Abendessen, während er sich seine Zigarette drehte. »Haben sie die alte Frau irgendwo auf einer Landstraße aus dem Auto geworfen oder mit einem Anker um den Hals in den Hafen versenkt? Was meinst du?«
Er machte diese Bemerkungen am liebsten, wenn Christine oder David gerade aus dem Zimmer gegangen waren, aber jeden Moment wieder hereinkommen konnten, sodass ich keine Zeit hatte, ihm zu antworten, sondern höchstens ein wenig dumm lachen konnte.
Aber eines Mittags standen wir zu zweit in dem Container vor dem Haus, in dem wir Frau de Bildes Möbel nach und nach abgestellt hatten. »Was hast du eigentlich damit vor?«, fragte er. »Stellen wir das Zeug hinterher pro forma zurück, wenn ich da drinnen fertig bin? Oder deponieren wir alles da, wo sie sie auch deponiert haben? Wo immer das sein mag.«
Mir lief es eiskalt über den Rücken, unwillkürlich warf ich einen Blick durch die geöffnete Tür des Containers, doch die Straße lag verlassen da.
»Was willst du eigentlich?«, fragte ich und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Etwas in meiner
Weitere Kostenlose Bücher