Odo und Lupus 04 - Die Witwe
nach den Schlafhäusern hin. Die geheimnisvolle Witwe war es natürlich, die ihm nicht aus dem Sinn ging. Vielleicht hoffte er, daß sie plötzlich hinter dem Sackvorhang einer der Türen auftauchen und ihm ein Zeichen geben würde. Dergleichen passiert ihm ja öfter an Orten, wo wir rasten, und manchmal sind es, wie ich beobachten konnte, gerade die bei Lichte unnahbarsten und scheinbar tugendhaftesten Frauen, die im Dunkeln zu rasenden Messalinen werden. Doch in dieser Nacht blieb ihm ein Gunstbeweis versagt, und schließlich verschwand er brummend wieder im Salhaus.
Bis zum Morgen ereignete sich nichts mehr. Unsere Ängste erwiesen sich glücklicherweise als unbegründet. Es dämmerte schon, als mich doch noch der Schlaf übermannte. Odo mußte mich heftig rütteln, um mich zu wecken.
Inzwischen war die Sonne längst aufgegangen. Die Knechte hatten den Allard gefunden und heraufgebracht. Es war sein Leichnam, wie zu erwarten, den sie vor der Treppe des Salhauses auf einer Decke niedergelegt hatten. Der Körper war blutbesudelt und in der Mitte fast zerstört und überhaupt nicht mehr füllig, weil die Eingeweide zum größten Teil abgerissen und herausgefallen waren. Der Verunglückte war nämlich auf eine trockene Kiefer gestürzt, die ihn sozusagen gepfählt hatte. Als ihn die Männer entdeckten, hing er hoch in der Luft, und sie mußten den Baum erst fällen, um ihn abnehmen zu können. Das Gesicht war völlig unversehrt, wenn auch vom Schreck und Grauen verzerrt. Das purpurfarbene Näschen strebte noch immer himmelwärts, doch habe ich große Zweifel, daß dies die Richtung ist, in welche die Seele des Allard sich aufgemacht hat. Nichtsdestoweniger betete ich für ihr Heil und sang für den Toten die Verse des einundfünfzigsten Psalms, mit denen der Schuldbeladene zum Herrn fleht, er möge das Antlitz vor seinen Sünden verbergen, seine Missetaten tilgen und die Gebeine fröhlich werden lassen, die er zerschlagen hat. Viel genützt haben wird es wahrscheinlich nicht.
Wir rüsteten dann unverzüglich zum Aufbruch. Herr Garibald machte zwar einen schwachen Versuch, uns zurückzuhalten, und lud uns sogar ein, während des Aufenthalts in der Grafschaft unser ständiges Quartier im Rabennest zu nehmen. Doch außer bei Heiko, der keine Stimme hat, stieß er damit auf kühle Ablehnung. Er drängte auch nicht weiter, sondern rief sogar einen Knecht herbei, der uns auf der von Irmo erwähnten Abkürzung zu Rothari bringen sollte. Denn natürlich hatte er noch keine Zeit gehabt, den Paß räumen zu lassen.
Der Herr des Rabennests war grau im Gesicht und übermüdet. Die Äuglein unter den tief gesenkten Lidern schienen unbeweglich geworden zu sein. Kaum konnte er seine üble Laune verbergen, die ihre Ursache wohl nicht nur im Tod seines Neffen, sondern auch im Scheitern seines aufwendig ins Werk gesetzten Plans hatte. Er mußte sich eingestehen, daß es ein Fehler war, uns in seine Felsenburg zu locken, denn er hatte dabei mehr verloren als gewonnen. Beim Abschied am Haupttor stellte er dennoch die trotzige Frage, wann wir gedächten, eine Gerichtsversammlung einzuberufen. Er wolle sich einfinden, um wegen zweier Morde an Mitgliedern seiner Familie sein Recht zu erstreiten.
Darauf erklärte ich ihm mit nüchternen Worten, daß wir ihm rieten, im Falle des Allard auf eine Klage zu verzichten, da es sich ohne Zweifel um einen Unfall gehandelt habe. Wir selber seien ja dafür Zeugen. Er habe sogar noch Glück gehabt, fügte ich hinzu, daß der Gefolgsmann des Grafen am Leben geblieben sei, der in seinem Hause herausgefordert, angegriffen und aus dem Hinterhalt verwundet wurde, obwohl er friedlich gekommen war, um eine Botschaft zu überbringen. Rotharis Sohn und einer unserer Männer seien ebenfalls verletzt worden. Daß es unter den Augen von Stellvertretern des Königs zu solcher Unordnung kam, sei eine Beleidigung des Herrschers selbst, und nur unsere Dankbarkeit für die erwiesene Gastfreundschaft könne uns daran hindern, ein Bußgeld von 60 Solidi zu erheben. Was den vermuteten Mord an seinem Bruder Bardo betreffe, sagte ich schließlich, so könne er selbstverständlich klagen, und falls er durch Zeugen die Schuld seines Gegners beweisen könne, solle er volle Genugtuung erhalten. Eine außerordentliche Gerichtsversammlung werde so bald als möglich einberufen. Wir selbst würden dafür Sorge tragen, daß er rechtzeitig davon Nachricht erhielte.
Er nickte stumm und stand reglos und schweigend am Tor, als wir
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