Odo und Lupus 04 - Die Witwe
wenn der Schütze, der Odo auf sich zustürzen sah, den Abschuß nicht überhastet hätte. So verfehlte der Pfeil den Irmo und schwirrte hart über den neben ihm liegenden Allard hinweg. Gleich darauf war Odo bei Hug. Er entriß ihm den Bogen, spannte diesen über sein Knie und zerbrach ihn.
Oben aber erhob sich Allard zu unser aller Erstaunen, taumelte zwei Schritte rückwärts und schrie:
„Seid ihr da unten noch bei Verstand? Wollt ihr mich umbringen? Hört auf damit! Wartet nur, wenn ich –“
Der Rest war ein unnatürlich kreischender Laut im Augenblick des höchsten Entsetzens. Irmo hatte sich vorgebeugt und einen Arm ausgestreckt. Mir schien, daß er den Allard packen und festhalten wollte. Doch der war am Rande der schmalen Kuppe ausgeglitten und abgerutscht. Schaurig hallte sein Schrei aus dem Abgrund herauf.
Einen Atemzug lang waren alle stumm. Dann heulten ein paar Frauen auf, und gleich darauf erhob sich ein allgemeiner Tumult.
Herr Garibald stürzte auf mich zu:
„Habt Ihr das gesehen? Er hat ihn hinabgestoßen!“
„Aber mir schien, er wollte ihn festhalten …“
Es war sinnlos zu widersprechen. Niemand hörte auf mich. Garibald ging von Mann zu Mann.
„Du hast es doch auch gesehen!“
„Jaja, ganz deutlich!“
„Hast du es gesehen?“
„Hab ich. Natürlich.“
„Er hat den Arm ausgestreckt und ihn hinabgestoßen!“
„Genauso war es.“
„Auch du bist Zeuge! Umgebracht hat er ihn! Zuerst den Vater, jetzt den Sohn …“
Die Horde des Hug versammelte sich am Fuße des Felsens.
„Komm herunter!“ rief Hug dem Irmo zu. „Wir wollen den Helden auf den Schild heben!“
„Wir wollen ihn zum König ausrufen!“ höhnte ein anderer.
„Zum König der Mörder!“ schrie ein dritter.
Er wurde hart gepackt und beiseite gestoßen.
„Niemand wage, ihn anzurühren!“ sagte Odo so laut, daß alle es hören konnten. „Und nun Platz gemacht!“
Mein Amtsgefährte hatte sein Schwert gezogen, und mit der flachen Klinge teilte er Hiebe aus. Die jungen Kerle wichen zurück. Odo sprang auf die erste Stufe und hatte im nächsten Augenblick die Treppe erstiegen.
Oben sahen wir ihn an den Rand der Kuppe treten und einen Blick in den Abgrund werfen. Dann sprach er kurz mit Irmo, und gleich darauf machten die beiden sich an den Abstieg. Odo erlaubte dem Verwundeten, seine Schulter als Stütze zu benutzen. Er nahm die Stufe zuerst, und Irmo, die linke Hand aufgestützt, folgte. So gelangten sie unten an und gingen, beide gleich groß und alle anderen überragend, an den finster starrenden, böse Bemerkungen machenden jungen Adalingen vorüber wie die heidnischen Heldenzwillinge Kastor und Pollux an der Herde der zwar noch stampfenden, schnaubenden, aber gebändigten Rosse. Nur Herr Garibald trat ihnen entgegen.
„Irmo, Sohn des Meginfred!“ rief er. „Du hast zwei Männer unserer Familie getötet! Dafür wirst du uns Rechenschaft geben – so oder so!“
„Im Falle des Allard ist Eure Beschuldigung unzutreffend“, erwiderte Odo an Irmos Stelle.
„Mein Neffe liegt unten im Abgrund!“
„Ja …“
„Er wurde hinabgestürzt!“
„Hinabgestürzt!“ grollten die Schrate.
„Nein!“ sagte Odo. „Er wurde nur durch ein Messer verwundet, damit er das Schwert fallen ließ. Danach erhob er sich und trat selbst an den Rand der Kuppe, weil er Angst vor einem weiteren Pfeilschuß hatte. Das bestätigen auch seine letzten Worte, die alle gehört haben. Schickt möglichst gleich einen Suchtrupp ab. Es könnte ja sein, daß er noch lebt. Außerdem gibt es Verletzte, denen man helfen muß. Dieser Mann wurde an der Schulter getroffen …“
„Verrecken soll er!“ schrie Garibald.
Im selben Augenblick sah er, wie wenige Schritte entfernt die Meinrade dem Thankmar ein Tuch um die blutende Hand wickelte.
„Weg von dem!“ fuhr er sie an. „Dein Vetter liegt unten in der Schlucht, und du sorgst dich um seine Mörder!“
„Seine Mörder?“ widersprach der junge Mann heftig. „Seid Ihr von Sinnen? Was fällt Euch ein?“
„Schweig und verschwinde! Verlasse das Rabennest!“
„Erst muß ich seine Wunde versorgen!“ rief die Meinrade. „Er ist mein Verlobter!“
„Das war er!“ donnerte Garibald. „Auch ich bin der Meinung, daß meine Tochter zu teuer ist – für einen wie diesen, der an der Seite unseres Feindes das Schwert zieht!“
Die Jungfrau brach in Tränen aus. Der junge Mann strich ihr tröstend über das Haar.
„Gräme dich nicht“, sagte er. „Du
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