Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Leiche war in einem Industriegebiet im Departement Seine-Maritime vergraben. Können wir jetzt hereinkommen?«
» Seine-Maritime… was hatte er denn da zu suchen?«
Der Mann weinte nicht, doch die Nachricht traf ihn so schwer, dass er auf sein Sofa sank. Die beiden Ermittler traten ungebeten ein.
» Es musste ja früher oder später so enden. Wer hat das getan?«
» Das wissen wir noch nicht. Haben Sie eine Idee?«
» Keine Ahnung. Er hatte viele Feinde. Hier in der Siedlung und anderswo.«
Lucie sah sich rasch im Zimmer um. Flachbildschirm, Spielkonsole, überall Turnschuhe und ein Haufen Geräte in einem viel zu kleinen Apartment. Sie entdeckte Fotos in einem Rahmen. Stirnrunzelnd nahm sie diese in Augenschein.
» Sind Sie Zwillingsbrüder?«
» Nein, Mohamed war ein Jahr jünger als ich und zwei oder drei Zentimeter größer. Aber ansonsten ähnelten wir uns wie ein Ei dem anderen. Wenn ich ›ähneln‹ sage, dann aber nur äußerlich. Was den Rest betrifft, so hatte ich nichts mit ihm gemeinsam. In Mohameds Kopf stimmte etwas nicht.«
» Wann sind Sie ihm zum letzten Mal begegnet?«
Akim Abane starrte mit leerem Blick auf den Boden.
» Zwei oder drei Monate nachdem er aus dem Knast entlassen worden war, so um Neujahr herum. Mohamed war hergekommen, um sich auszuweinen; er sagte, er wolle sich ändern, ein besseres Leben anfangen. Ich habe ihm nie wirklich geglaubt. Es war einfach unmöglich.«
Neujahr… damit konnte man den Todeszeitpunkt der fünf Männer auf weniger als sieben Monate zurückdatieren. Sharko kannte die Antwort auf seine nächste Frage, wollte aber den Bruder zum Sprechen bringen.
» Warum?«
» Weil Typen wie er einfach nicht aufhören können. Man hat mir die Fotos von diesem Mädchen gezeigt, dessen Geschlechtsteil er verbrannt hat, das ist eine Ewigkeit her. Das Bild hat sich mir eingeprägt. So was ist bestialisch…« Er seufzte. » Mohamed ist damals eine knappe Woche hiergeblieben. Ja, genau. Es muss Mitte Januar gewesen sein, als er mit ein paar Sachen in seiner Reisetasche abgezogen ist.«
Er verstummte einen Augenblick.
» Ich habe nicht eine Sekunde geglaubt, dass er es tun würde, und ich habe mich nicht getäuscht.«
» Dass er was tun würde?«
Mit einem Seufzer erhob sich Akim Abane, öffnete eine Schublade und wühlte in irgendwelchen Papieren. Dann reichte er Sharko eine leicht zerknitterte Broschüre.
Das Herz des Kommissars überschlug sich fast.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils wurde ihm alles klar.
Er blickte zu Lucie, die ebenso verblüfft war.
Akim nahm erneut seinen Platz ein und legte die Hände auf seine kräftigen Schenkel.
» Eines Tages hat Mohamed das im Knast in einer Zeitschrift gefunden. So wie er sich damals geäußert hat, muss es eine Offenbarung für ihn gewesen sein. Bei denen wollte er sich verpflichten. Schluss mit der Vergangenheit machen. Die Identität wechseln und ganz von vorn anfangen. Von wegen…«
Er nahm den Rahmen mit dem Foto und sah es lange an.
» Verdammtes Arschloch, warum bist du tot?«
Sharko frohlockte im Stillen. Die Fremdenlegion… das passte genau zu den Entdeckungen der letzten Tage. Lucie fuhr mit der Befragung fort.
» Haben Sie den geringsten Beweis dafür, dass er in die Legion eingetreten ist? Briefe, Anrufe? Hat er eine Zugfahrkarte für die Reise… in den Süden… gekauft?«
» Nach Aubagne?«, ergänzte Sharko.
Der Araber schüttelte den Kopf.
» Nein, er ist nicht eingetreten. Ich kannte ihn, er war dazu nicht in der Lage. Viel zu instabil. Jede Autorität war ihm zuwider. Können Sie sich das in so einem Verein vorstellen? Eines Tages, als ich von der Arbeit heimkam, hatte er sich aus dem Staub gemacht. Nicht mal seine Broschüre hatte er mitgenommen. Kein Abschiedsgruß, nichts. Ich wusste, früher oder später würden die Bullen bei mir anklopfen.«
Der Kommissar presste die Lippen zusammen, die Augen auf die illustrierte Werbung geheftet, auf der ein Soldat mit weißem Käppi und all seinen Abzeichen stolz posierte. Es lag auf der Hand, dass Mohamed Abane trotzdem der Legion beigetreten war, doch es fehlte jeder Beweis dafür.
» Gibt es Verwandte, Nahestehende oder Freunde, bei denen Ihr Bruder nach seinem Aufbruch von hier hätte unterschlüpfen können?«
» Außer irgendwelchem Gesindel sehe ich da niemanden…«
Sharko dachte weiter angestrengt nach. Auch wenn sich alles allmählich zusammenfügte, so blieb trotzdem ein großes Fragezeichen: Warum hatte man einem Typen, der
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