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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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später den Grund erfahre, schäme ich mich für diesen Gedanken. Mischka Leonard ist mein Freund. Er ist älter als ich, spät eingeschult und einmal sitzen geblieben. Er ist alles, was ich nicht bin. Stark, selbstständig und beliebt. Er raucht und fährt schwarz mit der S-Bahn. Und ist nicht da, wenn man ihn braucht.
    Der Frühsommer flutet das Klassenzimmer mit warmem Licht, und zwei Mädchen in der Reihe vor mir räkeln sich wie Katzen in der Sonne. Sie haben sich fest vorgenommen, den Lateinlehrer noch vor Ferienbeginn verrückt zu machen. Die großen Ferien sind in greifbarer Nähe, und ich weiß, dass ich nie wieder nach Schweden fahren kann. Jetzt wo Benja tot ist, habe ich dort nichts mehr verloren.
    Als es endlich klingelt, packe ich meinen Kram zusammen und mache mich auf den Weg zur Isar. Es gibt da eine Uferstelle, wo wir vor einigen Wochen ein paar angeblich mit Haschisch versetzte Kekse probiert haben. Sie haben einfach nur beschissen geschmeckt. Ich finde Mischka auf einem Baumstumpf. Er ist blass und sieht so elend aus, dass ich erschrecke. Und er weint. Das habe ich nicht für möglich gehalten. Mischka hat am Abend vorher seinen Vater tot aufgefunden. Professor Ralph Leonard, Kunsthistoriker und stadtbekannter Partylöwe hat sich mit einem Strick um den Hals umgebracht und nicht eine einzige Zeile als Begründung hinterlassen. Wie soll man damit fertig werden? Ich lege meinen Arm um Mischkas Schulter, ohne dass er mich abwehrt.
    Später erzähle ich ihm von Benja.
    Nach der Scheidung seiner Eltern hat Mischka bei seinem Vater gelebt, während seine Mutter nach England gegangen ist. Wir wissen beide, was das bedeutet. Über kurz oder lang wird auch Mischka weggehen. Aber zunächst nehme ich ihn mit zu uns. Wir gehen vorher noch bei der Wohnung seines Vaters vorbei, um ein paar Sachen zu holen, aber die Wohnung ist versiegelt. Niemand hat einen Gedanken daran verschwendet, wo Mischka wohnen soll.
    Drei Tage später holt seine Mutter ihn ab. Sie ist groß, schön und reserviert, und nach der Beerdigung fahren sie zurück nach Yorkshire. In den Herbstferien besuche ich ihn …

Siebzehn
    W
    ir haben uns nie geschrieben. Nach meinem Besuch in England riss der Kontakt einfach ab, und ich glaube, keiner von uns beiden verstand, wie das passieren konnte. Wir hatten uns beide verändert, oder vielleicht sollte ich sagen, der Tod hatte uns verändert.
    Ich hatte wochenlang versucht zu begreifen, dass es zu dem lebendigen, schmerzhaft schönen Bild von Benja in meinem Kopf keine reale Entsprechung mehr gab, dass sie tatsächlich nur noch in meiner Erinnerung existierte. Wie konnte jemand tot sein, den ich so überwältigend deutlich sehen, riechen und schmecken konnte, sobald ich die Augen schloss. Je intensiver ich darüber nachdachte, desto weniger verstand ich es, und so wurde ich drei Wochen nach Benjas Tod krank. Eine harmlose Sommergrippe entwickelte sich innerhalb von drei Tagen zu einer Lungenentzündung mit allen nur denkbaren Komplikationen und beförderte mich per Express auf die Intensivstation der Uniklinik, wo ich in einem Zustand, den die Ärzte als ernst, aber stabil bezeichneten, eine Woche vor mich hin dämmerte.
    Als ich an einem verregneten Augusttag das Krankenhaus verließ, war meine Kindheit vorbei.
    Natürlich ging ich weiter zur Schule, spielte Fußball und trieb meine Umgebung in den Wahnsinn wie jeder andere Zwölfjährige auch, aber ich hatte mit dem Happy End abgeschlossen. Der die kindliche Psyche behütende Glaube, dass am Ende alles gut wird, war abgelöst worden von der Gewissheit, dass die meisten Geschichten denkbar schlecht ausgehen. Besonders die, an denen man beteiligt ist.
    Mischka muss es ähnlich ergangen sein. Nur mit dem Unterschied, dass er sich schuldig fühlte. Sein Vater hatte ihn ohne jede Vorwarnung, ohne Erklärung und ohne Abschied verlassen, und er fühlte sich schuldig.
    Als ich in jenem Herbst vor dem Landhaus seiner Mutter abgesetzt wurde und mit meinem alten Koffer die Kieseinfahrt hochtrottete, sah ich ihn schon von Weitem. Er hockte wie ein Jockey auf einem Sitzrasenmäher und rasierte die weitläufigen Rasenflächen um das Haupthaus verbissen auf halbe Streichholzlänge herunter. Seinen Haaren war es nicht besser ergangen. Statt der schulterlangen schwarzen Mähne trug er jetzt einen kurzen Internatshaarschnitt. Sein Gesicht leuchtete auf, als er mich erkannte, und verschloss sich, als seine Mutter herauskam, um mich zu begrüßen.
    Wir hatten eine

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