Oelspur
schöne Woche. Gemeinsam streiften wir durch die Countryside von Yorkshire, angelten, lagen faul in der Sonne und redeten. Über uns, über München, über Gott und die Welt. Und über seinen Vater. Mischka war ernst geworden. An die Stelle seiner früheren rotzfrechen Fröhlichkeit war ein ruhiger, distanzierter Zynismus getreten, der ihm half, den Verlust und das Leben mit seiner Mutter zu ertragen. Aber nichts war mehr wie früher, und wir spürten es beide.
Der Kiesweg, den ich jetzt hinaufging, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem in Yorkshire. Er war lang und führte sachte ansteigend zu einem großen, rietgedeckten Haus am äußersten Stadtrand von Hamburg. Es war nicht leicht gewesen, einen Termin mit Mischka Leonard zu vereinbaren. Ein paar Stunden nach der Beerdigung hatte ich mich ans Telefon gehängt und versucht, ihn an den Apparat zu bekommen, was sich als erstaunlich schwierig herausstellte. Ein arroganter Sekretär mit einer seidigen Tuntenstimme hatte mich eine Viertelstunde in der Warteschleife hängen lassen, um mir dann mitzuteilen, er könne sich nicht vorstellen, dass Herr Leonard heute überhaupt noch mal ins Büro komme. Als ich anfing, ihn auf Schwedisch zu beschimpfen, gab er mir die Nummer eines Handys, bei dem nur die Mailbox antwortete.
Ich rief noch einmal im Rathaus an, wurde endlos weitergereicht, bis auf einmal jemand völlig überraschend sagte:
»Herr Leonard? Moment, bitte. Ich stelle Sie durch.«
»Hallo?«
Eine fremde Stimme.
Bis auf den winzigen Hauch von süffisanter Belustigung und Arroganz, dem der Stimmbruch nichts hatte anhaben können.
»Hier ist Thomas«, sagte ich. »Thomas Nyström.« Und dann setzte ich widerwillig hinzu: »Der alte Schwede.«
»Große Güte«, sagte er leise glucksend, »das geht dir immer noch gegen den Strich!«
Ich hatte fast vergessen, wie sehr ich diesen Spitznamen hasste und wie vergeblich meine Anstrengungen waren, ihn zu loszuwerden.
»Hey, Tommy, alter Schwede. Komm, stell dich nicht so an …« Und dann war garantiert etwas gekommen, was ich auf gar keinen Fall tun wollte.
»Wo steckst du?«, fragte Mischka jetzt.
»Hier in Hamburg. Ich würde dich gerne sprechen.«
»Auf jeden Fall! Kannst du privat bei mir vorbeikommen? Heute Abend? Am besten nimmst du dir ein Taxi, das Haus ist schwer zu finden!«
Er gab mir seine Adresse, und während ich sie mit dem Handy am Ohr notierte, sagte er:
»Das ist die beste Überraschung seit zwanzig Jahren!«
Dann legte er auf.
Als ich am Ende des Kieswegs ankam, öffnete sich die Haustür, und Mischka kam heraus. Er freute sich wirklich, mich zu sehen. Es war ihm anzusehen, und ich spürte es. Er kam auf mich zu, streckte die Hand aus, zögerte und umarmte mich dann kurzerhand. Danach hielt er mich an den Schultern auf Armeslänge von sich weg und sagte:
»Mann, bist du groß geworden!«
Mit Erstaunen registrierte ich, dass ich mit meinen Einmeterneunzig tatsächlich fast einen Kopf größer war als Mischka. Das hätte mir als Kind mal jemand sagen sollen.
Als wir später auf seiner Büffelledergarnitur saßen und unsere Cognacschwenker in den Händen drehten, hatte ich Zeit, ihn genauer anzusehen. Er sah im Grunde noch besser aus als auf dem Wahlplakat. Kurze, dunkle Haare und genau die richtige Anzahl von grauen Stoppeln im Dreitagebart, um das Image jugendlichen Tatendrangs mit reichlich Lebenserfahrung zu garnieren. Er trug einen dunkelgrauen Leinenanzug von Hugo Boss mit einem T-Shirt darunter, Mokassins von Gucci ohne Socken und nicht ein Pfund zu viel mit sich herum. Und dieses Lächeln.
Alles anders und alles beim Alten.
Wir prosteten uns zu, grinsten verlegen, und schließlich fing er an zu erzählen, wie es nach jenem denkwürdigen Herbst vor achtundzwanzig Jahren weitergegangen war. Es war unfassbar. Er setzte einfach da an, wo wir damals aufgehört hatten, und es funktionierte.
»Ich war die ganze Schulzeit im Internat«, sagte er, »aber das war okay. Ich hätte sonst meine Mutter nicht ausgehalten. Das englische Schulsystem für die gebildeten Stände hat auch seine Vorteile.«
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Tot«, sagte er ohne Bedauern.
Ich zuckte etwas zusammen.
»Ich habe in Cambridge studiert«, sagte er, »und später dann in Stanford. So weit wie möglich weg von Queen Mom.«
»Hast du sie wirklich so gehasst?«
»Sie hat mich gehasst! Dafür, dass ich nach der Scheidung bei Ralph geblieben bin, und dafür, dass ich sie jeden Tag an ihn
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