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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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sich ein schwarzer Audi langsam aus den Häuserschatten der gegenüberliegenden Straßenseite und fuhr mit abgeblendeten Scheinwerfern davon. Ich war so betrunken und beschwingt, dass ich mir nicht das Geringste dabei dachte.

Achtzehn
    U
    nd«, fragte Anna kauend, »wie hat er sich so gemacht, dein Freund, seit der letzten Klassenarbeit?«
    Ich saß am Frühstückstisch, sah Anna beim Essen zu und rührte in einem großen Glas Alka-Seltzer herum. Ich hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Die Art von Kopfschmerzen, die einen über Migräne lachen lässt, aber das erste Mal seit Helens Tod fühlte ich mich einigermaßen im Gleichgewicht.
    »Er wird uns helfen.«
    »Wann fahren wir nach Lettland?«
    »In ein paar Tagen. Du kannst schon mal zwei Flüge nach Riga buchen.«
    »Ich fliege nicht«, sagte Anna.
    »Was soll das jetzt?«
    »Wenn Gott gewollt hätte, dass der Mensch fliegt, hätte er ihm … okay, ich trau den Dingern nicht, ich hab Schiss. Jetzt weißt du’s. So sind sie, die Jonas-Schwestern: eine hat Platzangst und die andere Flugangst.«
    »Und wie sollen wir nach Lettland kommen? Mit deinem maroden Bus?«
    »Mit dem Schiff«, sagte Anna triumphierend. »Hab ich gestern Abend schon gecheckt. Übers Internet. Wir fahren mit dem fabelhaften Bus nach Rostock und von da mit der Fähre nach Ventspils. Dann ist es nicht mehr weit nach Riga.«
    »Okay, aber wenn du mir auf die Schuhe kotzt, schmeiß ich dich über Bord.«
    »Abgemacht«, sagte Anna.
    Sie schwieg eine Weile und beschäftigte sich mit ihrem vierten Brötchen, aber schließlich siegte die Neugier.
    »Was ist er denn jetzt für ein Typ, dein Freund?«
    »Du wirst ihn heute Abend kennenlernen. Wir sind eingeladen, und er hat für uns ein Treffen mit einem Lotsen arrangiert.«
    »Warum sollen wir mit einem Lotsen sprechen?«
    »Lass dich überraschen. Mischka sagt, der Mann ist ein Phänomen.«
    »Ist dein Freund tatsächlich ein großes Tier in der Politik?«
    »Bis jetzt noch nicht, aber er arbeitet dran. Ist das für dich ein Problem?«
    »Na ja«, sagte Anna, »ich hab nichts anzuziehen.«

Neunzehn
    O
    le Petersen war tatsächlich ein Phänomen. Er mochte vielleicht sechzig Jahre alt sein, hatte volles, weißes Haar und ein schmales, faltiges, vom Wetter gegerbtes Gesicht. Trotz seines offensichtlichen Alters machte er einen jungen und enorm lebendigen Eindruck, für den hauptsächlich seine Augen sorgten. Klare, wasserblaue, weitsichtige Kanoniersaugen. Er hätte in jedem Hollywoodfilm einen erstklassigen U-Boot-Kommandanten abgegeben. Das wirklich Phänomenale an ihm war jedoch sein Gedächtnis für Katastrophen auf See. Für Ole Petersen waren Schiffe interessant, wenn sie untergegangen waren.
    Er war zunächst etwas reserviert gewesen, weil er offenbar keine Ahnung hatte, warum er eingeladen worden war, aber Mischkas grandioses Essen hatte uns alle in eine gehobene Stimmung versetzt. Bretonische Fischsuppe, Steinpilzgratin, Lammfilets mit grünen Bohnen und ofenwarmen Apfelkuchen zum Nachtisch hatte ich ihm tatsächlich nicht zugetraut. Wahrscheinlich war er mal mit einem Drei-Sterne-Koch ins Bett gegangen.
    Petersen hatte offensichtlich auf Anhieb Gefallen an Anna gefunden und einen beträchtlichen großväterlichen Charme entfaltet, der gut angekommen war.
    »Heilige Scheiße, sieht der gut aus«, hatte sie mir zugeflüstert, als wir uns beim Tischabräumen im Flur trafen. »Nicht dein schwuler Freund. Der Alte!«
    Aber auch Anna sah gut aus an diesem Abend. Sie hatte in Helens Kleiderschrank dann doch noch was zum Anziehen gefunden und ähnelte in weißen Jeans und einem von Helens Lacoste-Pullovern nicht im Entferntesten mehr dem Gespenst, das mir vor Kurzem mit dem Lineal eins übergezogen hatte. Der vormals gleichmäßig kahl geschorene Schädel war jetzt von einem kurzen, dunklen Haarflaum bedeckt, der sie wie höchstens achtzehn aussehen ließ.
    Nach dem Essen hatten wir es uns auf Mischkas Couch bequem gemacht, und während ich noch darüber nachdachte, wie viel von der Geschichte ich Petersen erzählen sollte, ergriff er die Initiative.
    »Also, was kann ich für euch tun?«, fragte er und sah Anna und mich direkt an. »Es muss was Wichtiges sein, sonst hätte der da«, er deutete mit dem Zeigefinger auf Mischka und grinste, »sich nicht so ins Zeug gelegt. Er hat meiner Tochter ein Auslandsstipendium verschafft, aber er hat noch nie für mich gekocht!«
    »Mischka sagt, Sie sind so eine Art Spezialist für untergegangene

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