Oelspur
Straße runter. Ich wollte nur warten, bis du aufwachst.«
Ich nickte.
»Hast du überlegt, was wir jetzt machen?«
»Ja«, sagte sie, »wir werden Helen beerdigen. Und dann finden wir raus, was sie in Lettland wollte.«
Fünfzehn
M
eine Erinnerungen an die Beerdigung sind verschwommen. Außer Anna und mir waren zahlreiche Arbeitskollegen und Freunde von Helen erschienen, die wir allesamt nicht kannten. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung gehabt, wie bekannt Helen gewesen war. Geldorf war auch da.
Es regnete unaufhörlich, und Anna weinte die ganze Zeit. Helen hatte keiner Kirche angehört, und so war auch kein Pfarrer erschienen. Stattdessen hatte Dr. rer. pol. Kubens um die Ehre gebeten, im Namen der Zeitung eine Rede halten zu dürfen. Anna hatte nicht recht gewusst, wie sie es ihm abschlagen sollte, und letztendlich entledigte er sich seiner Aufgabe weit weniger schleimig, als wir befürchtet hatten. Er würdigte ihre Arbeit für die Zeitung, sprach von ihrem Mut und Engagement und ihren journalistischen Qualitäten und nannte sie einen warmherzigen, offenen und wunderbaren Menschen.
Ich stand wie versteinert am Grab, versuchte mir vorzustellen, dass Helen in dieser geschmackvollen Kiste lag, und konnte es einfach nicht. Die Tränen liefen mir in den Hemdkragen, und das leise Prasseln der Erde auf dem Sargdeckel schien in meinen Ohren zu dröhnen. Anna umklammerte meinen Arm, und gemeinsam ließen wir die Beileidsbekundungen über uns ergehen.
Nach der Beisetzung winkte uns Geldorf heran, verfrachtete uns ohne große Umstände in seinen alten Daimler und fuhr mit uns zu einem kleinen Café in der Innenstadt. Ich war ihm dankbar, vor allem, weil er einfach die Klappe hielt. Während er Kaffee und Cognac bestellte und mit seinen Zigarillos herumkasperte, starrte ich hinaus in den Regen und auf einen großen Bauzaun auf der anderen Straßenseite.
Und dort hing jemand, den ich kannte. Nicht dass ich ihn gleich erkannt hätte, achtundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Aber er war es. Er hatte kurz geschnittenes, dunkelgraues Haar, das früher einmal lang und schwarz gewesen war, ein immer noch schmales, gut geschnittenes Gesicht und einen gepflegten Dreitagebart. Vielleicht hatten seine Imageberater viel Zeit damit verbracht, ihm das süffisant-überhebliche Lächeln abzutrainieren, das für eine Politikerkarriere nur bedingt tauglich ist – aber der Erfolg war bescheiden. Im Grunde war es dieses Lächeln, das ich wiedererkannte. Neben ihm auf dem Plakat war eine rundgesichtige Frau mit einer hässlichen Ponyfrisur und einem politisch korrekten Gesichtsausdruck abgebildet.
Geldorf, der sich entschlossen hatte, endlich einen von seinen Zigarillos anzuzünden, folgte meinem Blick und sah mich dann aufmerksam an.
»Wer ist das?«, fragte ich, obwohl ich es genau wusste.
»Mischka Leonard«, sagte Geldorf, »mit Carola Dreyen. Von der Öko-Partei. Möchte gerne neuer Innensenator werden. Könnte sogar klappen.«
Sechzehn
I
ch sehe durch das offene Fenster auf den Schulhof. Ein paar jüngere Schüler haben eine Freistunde und versuchen mit wenig Glück, einen Basketball in den Korb zu werfen, der an der Außenwand der Turnhalle angebracht ist. Es ist die letzte Stunde. Latein, aber es könnte auch Klingonisch sein. Ich habe nichts mitbekommen. Den ganzen Tag nicht. Wie alle Schüler beherrsche ich die Kunst, ein konzentriertes Schafsgesicht zu machen und dabei mit den Gedanken völlig woanders zu sein.
Ich denke an das Gesicht meines Vaters, daran, wie er den Telefonhörer sinken lässt und sich seine Augen mit Tränen füllen, als er mir sagt, dass Benja ertrunken ist. Er nimmt mich in den Arm, um mich zu trösten. Aber ich verstehe nicht, was er sagt. Natürlich weiß ich, was »tot« bedeutet. Ich werde bald dreizehn. Ich gehe ins Kino und sehe die Nachrichten im Fernsehen. Ich weiß, dass jeden Tag Menschen sterben. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass das auch für Menschen gilt, die ich kenne.
Und ich habe nicht damit gerechnet, dass Mischka nicht da sein könnte. Die halbe Nacht habe ich geheult, und meine Mutter hätte mich zu Hause behalten, aber ich wollte in die Schule. Ich musste einfach mit ihm darüber sprechen, aber der Platz neben mir ist leer. Mischka fehlt unentschuldigt, zum wiederholten Mal in diesem Halbjahr, wie der Klassenlehrer heute Morgen säuerlich angemerkt hat. Auch ich kann sein Fehlen nicht entschuldigen. Wie kann er ausgerechnet jetzt nicht da sein? Als ich
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