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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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und der Unbeugsamkeit verrieten, zu der sie fähig war. Was hatte Anna gesagt? »Helen war nicht einfach distanziert, sie war ›nähelos‹, wenn es so ein Wort gäbe.« Wie nah war ich ihr gewesen? Nahe genug, um zu verbrennen. Ja, dachte ich, und nicht nahe genug, um dich zu verstehen.
    Irgendwie war mir dieser Gedanke schon beim letzten Mal nicht bekommen, und auch dieses Mal setzte die Wirkung sehr prompt ein. Ich fühlte eine aufsteigende Übelkeit und Pulsbeschleunigung wie bei einer Achterbahnfahrt, Schweißperlen machten sich auf den Weg in meinen Hemdkragen, und zugleich begann ich zu frieren. Aus der zurzeit geschlossenen Fachabteilung meines Gehirns meldete sich eine hämische Stimme: Dies ist eine Panikattacke. Nicht weiter schlimm. Entspann dich! Oder reiß dich zusammen! Was denn nun? Die Stimme hatte recht. Es hatte mit Panik zu tun. Mit der Angst davor, ohne Helen weiterzuleben, und vor der Endgültigkeit des Verlustes. Ich hatte Helen in der Pathologie gesehen und war an ihrem Grab gewesen, und ich hatte mir eingebildet zu wissen, dass sie tot war. Jetzt wusste ich es wirklich.
    In der letzten Woche hatte sich die Trauer auf eine merkwürdige Weise zurückgezogen, so wie das Meer in den Stunden unmittelbar vor einem Tsunami, und jetzt rollte sie mit der unfassbaren Intensität einer Impulswelle auf mich zu. Ich hielt die Kaffeetasse umklammert und sah, dass meine Hände zitterten. Neben mich hatte sich ein dicker alter Mann in einem bunten Norwegerpullover gesetzt, der mich sorgenvoll betrachtete. Schließlich sagte er:
    »Diese Schiffe sind sehr sicher, aber wenn Sie wollen, können Sie eine von meinen Pillen haben.«
    Ich begriff nicht, was er meinte, aber ich fand es trotzdem irre komisch. Ein sardonisches, schmerzerfülltes Kichern drängte an die Oberfläche, und ich wusste, wenn ich jetzt anfinge zu lachen, würde ich vielleicht tagelang nicht mehr aufhören. Die Bilder von Helen in meinem Kopf wechselten in rascher Überblendung. Helen wütend und sarkastisch, wenn ich nicht begriff, was sie von mir wollte. Helen atemlos und überirdisch schön, wenn wir miteinander geschlafen hatten. Helen kalt und unwiederbringlich tot auf einer Metallbahre. Ich wollte aufstehen, aber ich war mir nicht sicher, ob meine Beine mich tragen würden. Der Cognac, dachte ich, wozu gibt es Cognac? Ich griff nach dem Plastikbecher und schüttete den Rest von dem überteuerten Rémy Martin hinunter, was keine gute Idee war. Mein leerer Magen revoltierte augenblicklich. Die Übelkeit trieb mir die Tränen in die Augen, und mein Gesicht musste eine sehr charakteristische Färbung angenommen haben, denn die anderen Fahrgäste, die sich zwischenzeitlich auf den Sitzen um mich herum niedergelassen hatten, rückten erschrocken zur Seite. Dann kam ich auf die Beine. Ich stand einen Augenblick kerzengerade und ging dann langsam, sorgfältig einen Fuß vor den anderen setzend, zum Gang, der nach draußen führte.
    Es war sehr laut. Um mich herum waren Dutzende von angetrunkenen Touristen, schreienden Kindern und Stewards, die bereits angefangen hatten, die eine oder andere Kotzlache mit Sand zu bedecken. Mühsam kämpfte ich mich eine Metalltreppe hinauf zum Oberdeck, das nur wenig bevölkert zu sein schien, und trat schließlich nach wenigen Metern auf die Gangway ins Freie.
    Die Temperatur war gefallen, und es hatte angefangen zu regnen. Die Luft triefte vor eisiger Nässe, und die auf dem Rest des Schiffes vorherrschende Festbeleuchtung war hier oben schon deutlich zurückgefahren worden. In großen Abständen angebrachte bunte Scheinwerfer tauchten das Oberdeck in ein fahles Kirmeslicht.
    Langsam und gleichmäßig atmete ich durch und konzentrierte mich auf meinen Bauch. Die Übelkeit flaute etwas ab, aber mein Adrenalinpegel war unverändert hoch. Ich hielt mein Gesicht in den Regen und wartete, dass das Zittern aufhörte. Als ich mich nach einer Weile wieder kontrolliert bewegen konnte, begann ich, auf dem Oberdeck auf und ab zu gehen. Außer mir war jetzt nur noch eine Gruppe Jugendlicher an Deck, die – soweit dies möglich war – auf die Bugaufbauten geklettert waren und eine Flasche kreisen ließen. Einige standen freihändig in der berühmten Pose aus dem Film Titanic am äußersten noch zugänglichen Punkt des Bugs und schrien in den Wind, aber nur einzelne Wortfetzen drangen bis zu mir durch. Die Musik und das Lachen der Touristen aus den unteren Decks waren hier oben nur gedämpft zu hören, aber das Stampfen

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