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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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im Geringsten, aber er löste eine blitzartige Erinnerung aus. Genauso hatte es in Helens Wohnung gerochen, als ich mit Anna zum zweiten Mal dort gewesen war. Der Mann vor mir hatte Gauloises geraucht.
    Es dauerte endlose Minuten, bis der Schmerz in meinen Genitalien so weit nachließ, dass ich mich hinknien konnte. Mit zittrigen Fingern durchsuchte ich meine Taschen nach meinem Feuerzeug, ließ es aufschnappen und sah mich um. Ich befand mich in einem kaum fünf Quadratmeter großen Verschlag, an dessen Wänden Schwimmwesten, Rettungsringe, diverse Äxte und Branddecken in speziellen, schnell lösbaren Haltevorrichtungen angebracht waren. Die Tür machte einen beunruhigend soliden Eindruck. Ich ließ das Feuerzeug verlöschen und gab meinen Augen Zeit, sich auf die Dunkelheit einzustellen. Dann kroch ich auf die Tür zu. Sie war tatsächlich aus massivem Metall, aber ich konnte erkennen, dass sie mit dem Rahmen nicht vollständig abschloss. Gegen das hellere Licht vom Oberdeck war zwischen Tür und Rahmen deutlich ein schmaler, schimmernder Spalt zu sehen, der auf mittlerer Höhe unterbrochen schien. Der Riegel. Ich versuchte, mich an das Geräusch zu erinnern, als die Tür verschlossen wurde, und war mir auf einmal ziemlich sicher, dass der Riegel nicht vorgeschoben, sondern heruntergedrückt worden war. Also kroch ich zu einer Wand, zog mich an den Schwimmwesten hoch und ließ das Feuerzeug noch einmal aufflammen. Wieder stehen zu können war ein fabelhaftes Gefühl, auch wenn zwischen meinem Kopf und der Decke so gut wie kein Platz mehr war. Direkt vor mir befand sich eine stattliche Sammlung von scharfen, kurzstieligen Äxten zum Kappen von Tauen und Trossen. Ich suchte mir zwei aus und hangelte mich zurück zur Tür. Dann schob ich eine Axt mit der Schneide unterhalb des Riegels in den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen und trieb sie durch einen wuchtigen Schlag mit der zweiten Axt so weit wie möglich in den Spalt hinein. Durch wechselnde Schläge an die Seiten der Axt gelang es mir nach etwa zehn Minuten, den Spalt immerhin so stark zu erweitern, dass die Schneide in ihm frei hoch- und runtergleiten konnte. Dann kam der schöne Teil. Ich setzte die Schneide direkt unter den Riegel, schlug mit der anderen Axt von unten gegen den Stiel, und der Riegel klappte mit einem ächzenden Geräusch nach oben weg. Ganz einfach. Kein Tusch, kein Feuerwerk.
    Eine Windböe riss die Tür auf, und ich schwankte hinaus in den eisigen Regen. Etwa zehn Meter weiter links stand ein wetterfestes älteres Ehepaar an der Reling. Als der Wind die Tür mit Wucht wieder zuschlug, fuhren sie herum und starrten entsetzt zu mir herüber. Ich wollte gerade zu irgendeiner Art von Erklärung ansetzen, als ich merkte, dass ich die Axt noch mit beiden Händen umklammert hielt. Ich ließ sie einfach fallen und ging. Die Treppe runter zum Zwischendeck war das schlimmste Stück des Weges. Die Schmerzen im Unterleib hatten wieder zugenommen, aber mein unsicheres Gangbild fiel bei der fortgeschrittenen Alkoholisierung der anderen Fahrgäste nicht weiter auf. In den letzten fünfzehn Minuten hatte ich mehr Angst gehabt als in den gesamten vierzig Jahren meines bisherigen Lebens. Mein Puls raste, und das Adrenalin zirkulierte mit unverminderter Rasanz durch meinen Kreislauf, aber ich konnte an nichts anderes denken als daran, wie ich um Gottes willen die kurze Leiter in die obere Koje schaffen sollte. Ich konnte nicht mehr stehen, nicht mehr gehen und nicht mehr klar denken, aber immerhin hatte ich noch genug Verstand, die Tür zu unserer Kabine leise und behutsam zu öffnen.
    Das wiederum wäre nicht nötig gewesen. Die Kabine war hell erleuchtet. Überall auf dem Boden lagen Teile unseres Gepäcks verstreut. Anna saß auf dem Rand des unteren Bettes. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
    »Wo zum Teufel warst du?«, sagte sie tonlos.
    Ich gab keine Antwort, sondern wankte auf Anna zu und ließ mich neben ihr auf der Bettkante nieder.
    »Als ich vor einer Stunde kam, sah es hier so aus«, sagte sie, »das Licht war an, alle Sachen auf dem Boden verstreut. Jemand hat das Zimmer durchsucht und wollte, dass wir es wissen.«
    »Sie wollen uns Angst machen. Viel Angst. Während du auf mich gewartet hast, haben mir zwei Männer eine Pistole an den Hinterkopf gehalten und mir gesagt, ich soll nach Hause fahren.«
    Anna starrte mich fassungslos an.
    »Hier auf dem Schiff? Vor allen Leuten?«
    »Sie haben mich auf dem Oberdeck in einen Verschlag gezerrt

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