Oelspur
ich ihn aufmachen, oder schaffst du das selbst?«, fragte Anna.
Der Brief war relativ dick und schien nicht nur Papier zu enthalten. Ich öffnete den Umschlag und holte den Inhalt heraus. Er bestand aus einem Schreiben an mich und einer CD.
Lieber Tom!
Ich habe versucht, dich aus der ganzen Geschichte herauszuhalten, und wenn du diese Zeilen liest, ist das hoffentlich gelungen.
Seit etwa einem Jahr bin ich jetzt an dieser Sache dran, und schon nach vier Wochen habe ich gewusst, dass ich dich nicht dabeihaben will. Ich weiß, dass du deswegen wütend bist, aber ich habe es getan, weil ich dich liebe. Neben meiner kleinen Schwester, die du nicht kennst, bist du der einzige Mensch, der mir etwas bedeutet, und ich will, dass du lebst.
Von Anfang an habe ich gewusst, dass ich mich auf dünnem Eis befinde, aber ich hatte keinen Begriff von der unvorstellbaren Macht dieser Leute. Zweimal bin ich gewarnt worden, und die letzte Warnung war mehr als eindeutig. Sie haben mir eine Heidenangst gemacht, und die lächerliche Pistole, die ich mir im Hafen besorgt habe, hat nicht das Geringste daran geändert. Heute Morgen habe ich erfahren, dass einer meiner Informanten in der Schweiz getötet worden ist, und das hat den Ausschlag gegeben. Eigentlich wollte ich seinen Hinweisen folgen und nach Lettland fliegen, aber es ist zu gefährlich. Ich werde verschwinden. Ich habe das ganze Material auf CD gespeichert und an deine Eltern geschickt, weil du wissen sollst, dass ich dich nicht ausschließen wollte. Sie werden dir den Brief geben, wenn du sie im Sommer besuchst und ich sehr weit weg sein werde. Es schien mir ein sicherer Weg, dich einzuweihen, ohne die Aufmerksamkeit dieser Leute auf dich zu lenken. Bitte bewahre den Brief für mich auf. Noch habe ich nicht ganz aufgegeben. Heute Abend treffe ich zum letzten Mal einen Informanten, und morgen früh bin ich weg. Meine Festplatte ist gelöscht, ich habe jede Menge Bargeld dabei, und in meiner Manteltasche ist ein Flugticket nach Johannesburg. Von da aus geht es weiter. Bitte versuche nicht, mich zu finden, sondern warte auf mich.
In Liebe,
Helen
»Oh, mein Gott«, sagte Anna mit leiser, tränenerstickter Stimme. Ich hatte den Brief so gehalten, dass sie mitlesen konnte. Mir war schwindelig. Ich hielt die CD in der Hand und schaute zu Ruth hinüber. Sie deutete stumm mit dem Daumen in eine Ecke des großen Wohnzimmers, wo der PC stand, den ich ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte.
Helen hatte ihre Vorliebe für Akten in Papierform also letztendlich doch aufgegeben und war wegen einer CD umgebracht worden. Eine ordinäre CD-ROM, die für jemanden so wichtig war, dass ein paar Tote mehr oder weniger dabei keine Rolle spielten. Ich schob sie mit zitternden Fingern in den PC.
Es begann mit einem Text, der offenbar als Artikel konzipiert war. Aber nicht als normaler, sachlicher Zeitungsartikel, sondern eher als eine Art Anklageschrift, die sich in direkter Anrede an eine imaginäre Leserschaft richtete. Vielleicht das Vorwort zu einem Buch. Der Ton war bissig und traurig zugleich. Unverkennbar Helen. Nach der Einleitung waren mehr als hundert weitere Dateien gespeichert. Ich setzte mich in den Sessel vor dem Schreibtisch, spürte, wie ich schwitzte, und überlegte, ob dies ein guter Augenblick war, mit dem Rauchen wieder anzufangen. Dann begann ich zu lesen.
International Maritime Solid Solutions Limited
Noch nie davon gehört? Das wundert mich nicht. Ein wirklich unheimlicher Laden. Völlig öffentlich und gleichzeitig absolut geheim. Sie meinen, das geht nicht? Warten Sie es ab!
Der Hauptsitz der Firma ist in Brüssel, aber sie haben Büros und Niederlassungen auf der ganzen Welt. IMSS ist ein echter Global Player. Schauen Sie sich den Betonklotz in der Avenue des Nerviens ruhig einmal an. Acht Stockwerke verspiegelte Glasfassaden, mehr als zweihundert Angestellte, diskret bewaffnete Security an allen Eingängen. Sie wollen wissen, wer hier arbeitet und woran? Wenn man hineingeht und einen der vorbeihuschenden Mitarbeiter darauf anspricht, reagieren sie wie Autisten. Schauen Sie im Handelsregister nach oder im Internet. Fragen Sie bei der Anwaltskammer. Bei IMSS arbeiten Rechtsanwälte, Steuerberater, Versicherungsfachleute, Journalisten, Wissenschaftler, vor allem jede Menge PR-Profis und ein paar sehr unkonventionelle »Problemlöser«.
Letztere natürlich ohne Sozialversicherungsnummer.
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