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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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    »Das ist eine Angelegenheit des Glockenturms«, warnte Grelier. »Gehen sie an Ihre Arbeit
zurück.«
    Die Männer zerstreuten sich, aber die meisten von ihnen
würden auch weiterhin mit einem Auge das Geschehen verfolgen.
War etwa schon der Punkt erreicht, wo er Hilfe vom Offizium anfordern musste? Hoffentlich nicht; er tat sich viel darauf
zugute, dass er solche Dinge allein erledigte. Aber bei Vaustad wurde
es allmählich unerfreulich.
    Der Chormeister hatte sich in der Waagrechten etwa zehn Meter
weiter vorgeschoben und den Reaktorbereich verlassen. Nun war nichts
mehr zwischen ihm und dem Boden. Ein Sturz aus dreißig Metern
auf harten Untergrund wäre wohl auch bei Helas geringer
Schwerkraft tödlich.
    Grelier schaute nach vorne. Das Rohr hatte in gewissen
Abständen dickere Rippen und war dort mit dünnen
Metallseilen an der Decke aufgehängt. Vaustad war noch etwa
fünf Meter von der nächsten derartigen Befestigung
entfernt. An diesem Hindernis würde er unmöglich
vorbeikommen.
    »Na schön«, sagte Grelier so laut, dass er den
Lärm der Maschinen übertönte. »Ich habe
verstanden. Wir hatten alle etwas zu lachen. Machen Sie jetzt kehrt,
damit wir vernünftig miteinander reden können.«
    Aber Vaustad war wie von Sinnen. Er hatte die Aufhängung
erreicht und rutschte seitlich am Rohr herab, um sich daran
vorbeischieben zu können. Wie in Trance sah Grelier zu. Er
wusste, dass Vaustad es nicht schaffen würde. Schon für
einen jungen, sportlichen Mann wäre es schwierig gewesen, und
Vaustad war weder das eine noch das andere. Jetzt war er genau
über dem Hindernis, ein Bein hing haltlos herab, mit dem anderen
versuchte er sich abzustoßen. Eine Hand umklammerte das
Metallseil, mit der anderen tastete er nach der nächsten Rippe.
Als er sich streckte, rutschte er auch mit dem zweiten Bein vom Rohr
ab. Nun hing er mit dem ganzen Gewicht an einer Hand, mit dem anderen
Arm fuchtelte er, Halt suchend, in der Luft herum.
    »Ruhe bewahren!«, rief Grelier. »Nicht bewegen,
dann wird alles gut. Wenn Sie nicht zappeln, können Sie
durchhalten, bis Hilfe kommt!«
    Wieder hätte sich ein junger Mann, der gut in Form war,
selbst mit einer Hand so lange festhalten können, bis die
Rettung eintraf. Aber Vaustad war übergewichtig und
verweichlicht und hatte es bisher noch nie nötig gehabt, seine
Muskeln zu gebrauchen.
    Grelier sah, wie sich seine Hand vom Seil löste. Vaustad
stürzte ab und landete mit einem dumpfen Schlag, der vor dem
Maschinenlärm kaum zu hören war, auf dem Boden. Er hatte
weder geschrien noch laut gekeucht. Nun lag er auf dem Rücken,
seine Augen waren geschlossen, aber sein Gesichtsausdruck ließ
vermuten, dass er auf der Stelle tot gewesen war.
    Grelier hob seinen Stock wieder auf, klemmte ihn sich unter den
Arm und stieg die Rampe und die Leitern hinab. Am Fuß des
Reaktors angekommen, holte er den Medizinkoffer und schloss die
Gittertür auf. Als er Vaustad erreichte, hatten sich bereits ein
halbes Dutzend von Glaurs Technikern um die Leiche versammelt.
Grelier wollte sie wegscheuchen, doch dann ließ er es sein.
Mochten sie doch sehen, wie beim Offizium gearbeitet
wurde.
    Er kniete neben Vaustad nieder und öffnete den Koffer. Ein
Schwall kalter Luft schlug ihm entgegen. Innen gab es zwei
Abteilungen. Oben steckten die vom Blutzoll-Offizium frisch
gefüllten Spritzen für die Auffrischungsimpfung. Jede
Spritze trug ein Etikett, auf dem Serotyp und Virusstamm vermerkt
waren. Eine davon war für den Chormeister bestimmt gewesen und
musste nun anderweitig Verwendung finden.
    Er rollte Vaustads Ärmel zurück. War da noch ein
schwacher Puls zu spüren? Das würde vieles erleichtern.
Einem Toten Blut abzunehmen, war nicht so einfach. Auch wenn er noch
nicht kalt war.
    Er griff in das Abteil mit den leeren Spritzen und hielt eine
davon feierlich gegen das Licht.
    »Der Herr gibt«, sagte er, stieß Vaustad die Nadel
in die Vene und zog den Kolben zurück. »Und manchmal nimmt
er auch.«
    Er hörte erst auf, nachdem er drei Spritzen gefüllt
hatte.
     
    Grelier zog die Gittertür zur Wendeltreppe hinter sich ins
Schloss. Eigentlich war er froh, dem vorwurfsvollen Schweigen zu
entkommen. Manchmal erschien ihm der Antriebsbereich wie eine
Kathedrale innerhalb der Kathedrale, eine eigene Welt mit
ungeschriebenen Gesetzen. Er wusste, wie man Menschen kontrollierte,
aber da unten – zwischen all den Maschinen – war er nicht
in seinem Element. Er hatte sich bemüht, aus der Sache mit
Vaustad so

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