Offenbarung
Verletzungen
schützte.
Der Saum eines Hosenbeins verschwand um die Biegung. Die Schritte
wurden schneller. Grelier blieb lächelnd stehen und beugte sich
über den Rand. Er war fast am Ziel. Er fasste den Knauf seines
Krückstocks und drehte daran.
»Hinauf oder hinunter?«, flüsterte er. »Hinauf
oder hinunter?«
Hinauf. Das Klappern entfernte sich nach oben, zum
nächsthöheren Ring. Grelier schwankte zwischen Genugtuung
und Enttäuschung. Wenn der Mann hinunterstiege, wäre die
Jagd zu Ende. Der Fluchtweg war versperrt, Grelier könnte ihn
ohne Mühe mit seinem Krückstock betäuben. War sein
Opfer erst ruhig gestellt, dann dauerte es allenfalls noch ein bis
zwei Minuten, um ihm die Injektion zu verpassen. Sehr
ökonomisch, aber wo blieb der Spaß bei der Sache?
Auf diese Weise bekam er wenigstens eine Verfolgungsjagd. Der
Ausgang wäre doch immer der gleiche: Der Mann würde in die
Enge getrieben und müsste sich ergeben. Ein leichter Stoß
mit dem Krückstock, und er wäre Wachs in Greliers
Händen. Natürlich müsste er ihn noch die Leiter
hinunterbefördern, aber dabei könnte ihm einer von Glaurs
Leuten helfen.
Grelier stieg zum nächsten Laufsteg empor. Er war schmaler
als die beiden unteren und verlief, der Kuppelwölbung folgend,
weiter innen. Darüber gab es nur noch eine Ebene, die über
eine sanft ansteigende Rampe zu erreichen war. Diese Rampe ging
Vaustad soeben hinauf.
»Da oben ist der Weg zu Ende«, sagte der Generalmedikus.
»Kehren Sie um, und wir vergessen die ganze Sache.«
Den Teufel würde er tun. Aber Vaustad war ohnehin nicht mehr
ansprechbar. Er war jetzt am Scheitelpunkt und sah sich nach seinem
Verfolger um. Dicke Finger, ein Gesicht wie ein Mondkalb. Es war der
Gesuchte, aber daran hatte Grelier nie wirklich gezweifelt.
»Lass mich in Frieden«, schrie Vaustad. »Lass mich
endlich in Frieden, du elender Blutsauger.«
»Nur Stöcke und Steine brechen mir die Beine«,
sagte Grelier und lächelte nachsichtig, klopfte mit seinem
Krückstock gegen den Handlauf und betrat die Rampe.
»Du kriegst mich nicht«, rief Vaustad. »Ich will
nicht mehr. Ich habe die Albträume satt.«
»Nun haben Sie sich doch nicht so. Ein kleiner Stich, und
alles ist vorüber.«
Vaustad legte Arme und Beine um eines der silbrig glänzenden
Dampfrohre, die hier die Reaktorkuppel verließen, und begann zu
klettern. Die Metallstege gaben ihm Halt. Es sah nicht sehr elegant
aus, und er kam nur langsam voran, dennoch wurde sein Vorsprung
stetig größer. Hatte der Mann das so geplant? fragte sich
Grelier. Es war ein Fehler gewesen, nicht an die Rohre zu denken.
Aber wo sollte der Flüchtling letztlich hin? Die Rohre
führten doch nur wieder in die Halle zu den Turbinen und
Antriebsmotoren zurück. Die Jagd verlängerte sich zwar,
aber seine Chancen verbesserten sich dadurch nicht.
Grelier erreichte den höchsten Punkt der Kuppel. Vaustad
befand sich etwa einen Meter über ihm. Der Generalmedikus hob
seinen Krückstock und stieß damit nach den Fersen des
Chormeisters, traf aber nicht; der Mann hatte schon zu viel Höhe
gewonnen. Grelier verstärkte die Betäubungswirkung, indem
er den Stockknauf noch ein Stück weiter aufdrehte, und
berührte mit dem Stockende die Rohre. Vaustad stieß einen
spitzen Schrei aus, kletterte aber weiter. Noch eine Vierteldrehung:
Das war das Maximum, diese Stärke wäre bei direkter
Berührung tödlich. Er tippte kurz mit der Spitze an das
Metall. Vaustad umklammerte krampfhaft das Rohr und wimmerte mit
zusammengebissenen Zähnen, konnte sich aber immer noch
halten.
Greliers Krückstock war entladen, er ließ ihn fallen.
Die Sache hatte eine unvorhergesehene Wendung genommen.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte der Medikus
spöttisch. »Nun kommen Sie schon runter, sie werden sich
noch wehtun.«
Vaustad kletterte weiter, ohne zu antworten.
»Sie werden sich ernsthaft verletzen«, warnte
Grelier.
Vaustad hatte die Stelle erreicht, wo das Rohr abbog und waagrecht
durch die Halle zum Turbinenkomplex führte. Grelier rechnete
damit, dass er jetzt aufgab. Er hatte seinen Standpunkt deutlich
gemacht. Doch Vaustad schob sich um die Krümmung herum, legte
sich von oben auf das Rohr und umklammerte es mit Armen und Beinen.
Jetzt war er dreißig Meter über dem Boden.
Inzwischen hatte sich eine kleine Zuschauermenge eingefunden. Etwa
ein Dutzend von Glaurs Männern standen unten in der Halle
beisammen und schauten herauf. Auch zwischen den Kuppelstangen
bewegte sich nichts
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