Offenbarung
während er auf ihn
wartete.
»Was gibt es, Generalmedikus?«, fragte Glaur, als er
endlich unten war.
»Ich suche einen Mann«, erklärte Grelier, ohne sein
Anliegen zu begründen. Wozu auch? »Aber er ist nicht von
hier, Glaur. Hatten Sie unerwarteten Besuch?«
»Wen meinen Sie denn?«
»Den Chormeister. Sie kennen ihn sicher. Den mit den dicken
Fingern.«
Glaur schaute zurück zu den Kuppelstangen, die langsam hin
und her schwangen, als würden sie wie die Ruder einer Galeere
aus biblischer Zeit von hunderten von Sklaven bewegt. Vermutlich
wäre der Schichtleiter viel lieber da oben und würde sich
den kalkulierbaren Risiken der Maschinerie aussetzen, als hier unten
durch die tückischen Gewässer der Kathedralenpolitik zu
navigieren, dachte Grelier.
»Ich habe einen Mann gesehen«, bestätigte Glaur.
»Er ist erst vor ein paar Minuten durch die Halle
gegangen.«
»Und hatte es dabei wohl ziemlich eilig?«
»Ich dachte, er wäre im Auftrag des Glockenturms unterwegs.«
»War er nicht. Haben Sie eine Ahnung, wo ich ihn jetzt finden
könnte?«
Glaur sah sich um. »Vielleicht ist er über eine der
Treppen nach oben gestiegen.«
»Nicht anzunehmen. Ich denke, er ist hier noch irgendwo. In
welche Richtung war er denn unterwegs, als Sie ihn sahen?«
Grelier entging nicht, dass der Schichtleiter kurz zögerte.
»Zum Reaktor«, sagte er dann.
»Danke.« Grelier klopfte noch einmal kräftig mit
dem Krückstock auf den Boden, dann ließ er den Mann
einfach stehen. Er hatte, was er wollte.
Auch er strebte nun dem Reaktor zu, widerstand aber der
Versuchung, seine Schritte zu beschleunigen. Gemächlich
dahinschlendernd, schlug er mit seinem Stock immer wieder auf den
Boden oder auf jede andere Resonanzfläche, an der er
vorüberkam. Wenn er eines der verglasten und vergitterten
Gucklöcher im Boden erreichte, blieb er kurz stehen und sah zu,
wie zwanzig Meter unter ihm der Boden vorbeiglitt. Die Kathedrale
bewegte sich sehr ruhig, die Tritte der zwanzig gepanzerten Beine
wurden von Technikern wie Glaur perfekt synchronisiert.
Vor ihm ragte der Reaktor auf. Bis hinauf zum Scheitelpunkt zogen
sich ringförmige Laufstege um die Kuppel. Da und dort waren
Sichtfenster aus dickem, schwarzem Glas in die Wände
genietet.
Auf dem zweiten Laufsteg von unten verschwand soeben ein
Ärmel um die Biegung.
»Hallo«, rief der Generalmedikus. »Sind Sie das,
Vaustad? Ich hätte ein Wörtchen mit Ihnen zu
reden.«
Keine Antwort. Grelier ging ohne Eile um den Reaktor herum.
Über ihm vibrierten die Gitterroste unter den hastigen Schritten
eines Läufers, der immer außer Sicht blieb. Grelier
lächelte. Vaustad stellte sich erschütternd dumm an. Unten
im Antriebsbereich gab es hundert Verstecke. Aber der Chormeister
folgte seinen Affeninstinkten und suchte sein Heil in der Höhe,
obwohl er damit geradewegs in eine Sackgasse rannte.
Grelier erreichte die Leiter nach oben. Der Zugang war mit einer
Gittertür verschlossen. Er passierte die Pforte und sperrte sie
hinter sich ab. Mit dem Medizinkoffer in der Hand konnte er nicht
klettern, also stellte er ihn auf dem Boden ab. Den Krückstock
klemmte er sich unter den Arm, dann zog er sich Sprosse für
Sprosse bis zum ersten Laufsteg empor.
Um Vaustad noch mehr zu verunsichern, ging er einmal um die Kuppel
herum, schaute leise vor sich hin summend über den
Antriebsbereich und schlug hin und wieder mit seinem Stock gegen die
gewölbte Metallwand des Reaktors oder gegen das schwarze Glas
eines Kontrollfensters. Das Glas erinnerte ihn an die pechschwarzen
Splitter im vorderen Fenster der Kathedrale, und er fragte sich, ob
es sich womöglich um das gleiche Material handelte.
Zur Sache.
Er war wieder an der Leiter angekommen und stieg zur nächsten
Ebene hinauf. Dieses jämmerliche Getrippel wie von einer
Laborratte war immer noch zu hören.
»Vaustad? Nun seien Sie ein braver Junge und kommen Sie
herunter. Es geht auch ganz schnell.«
Das Getrippel hörte nicht auf. Die Schritte hinter dem
Reaktor wurden durch das Metall der Hülle übertragen.
»Dann muss ich eben zu Ihnen kommen.«
Wieder umrundete er den Reaktor. Er war jetzt auf gleicher
Höhe mit den Kuppelstangen. Obwohl er sich in sicherer
Entfernung befand, kamen sie ihm – durch die perspektivische
Verkürzung – wie Scherenblätter vor, die durch die
Luft sausten. Glaurs Techniker, die inmitten dieser Maschinerie ihre
Kontrollgänge machten und Teile ölten, bewegten sich wie in
einem magischen Käfig, der sie vor
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