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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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durch einen der
kleineren Zapfen und durchtrennte ihn mit einem sauberen Schnitt.
    Weiter ging es, fort vom Tageslicht. Die Luft wurde immer
kälter. Sie verkrochen sich tiefer in ihren Kleidern und
sprachen nur so viel, wie unbedingt nötig. Scorpio war froh um
seine Handschuhe gewesen, doch jetzt war es fast, als hätte er
sie doch vergessen. Er musste immer wieder hinunterschauen, um sich
zu vergewissern, dass er sie anhatte. Angeblich waren Hyperschweine
kälteempfindlicher als Standardmenschen: eine biochemische
Besonderheit des Schweineorganismus, die nie korrigiert worden war.
Die Schöpfer hatten keine zwingende Notwendigkeit dafür
gesehen.
    Darüber dachte er nach, als er Khouris aufgeregte Stimme
hörte. Sie war inzwischen allen voraus, obwohl sie sich so viel
Mühe gegeben hatten, sie zurückzuhalten.
    »Da vorne ist etwas«, sagte sie, »und ich glaube,
ich spüre jetzt auch Aura. Es kann nicht mehr weit
sein.«
    Clavain war dicht hinter ihr. »Was sehen Sie?«
    »Etwas Dunkles«, sagte sie. »Anders als das
Eis.«
    »Muss die Korvette sein«, sagte Clavain.
    Sie brauchten mindestens zwei Minuten, um sich durch die
nächsten zehn bis zwölf Meter zu kämpfen. Das Eis war
jetzt so dick, dass Clavain mit seinem Messerchen nur kleine Teile
abhacken oder abschneiden konnte. Und Khouri war besonnen genug, so
dicht am Herzen des Eisbergs keine Schüsse mehr abzugeben.
Ringsum hatten sich die Eisformationen erschreckend verändert:
Der Strahl aus Jaccottets Taschenlampe glitt über Gebilde, die
unheimlich an Schenkelknochen oder von Sehnen gehaltene Gelenke mit
Knochen und Knorpel erinnerten.
    Plötzlich verringerte sich die Dichte der Hindernisse. Sie
hatten den Kern des Eisbergs erreicht. Über ihnen spannte sich,
gestützt von mächtigen schuppigen Eisstämmen, die aus
dem Boden herauswuchsen, ein Dach. Das Eisgespinst setzte sich auch
jenseits davon fort.
    In der Mitte des Raums stand das Wrack eines Schiffs.
    Scorpio hielt sich, was Synthetikerschiffe anging, nicht für
einen Experten, doch für ihn sah eine Korvette der Moray-Klasse
wie eine längliche tiefschwarze Schmetterlingspuppe aus, mit
scharfen Kanten und spitzen Zacken besetzt wie ein mittelalterliches
Folterinstrument. Die Licht verschlingende Oberfläche sollte
fugenlos glatt sein. Und das Schiff durfte schon gar nicht auf der
Seite liegen, mit gebrochenem Rückgrat, aufgeplatzt wie ein
seziertes Forschungsobjekt, das man eingefroren hatte, während
ihm noch die Eingeweide herausquollen. Auch das Maschinenblut, in dem
der Leichnam lag, und die scharf gezackten Rumpfteile, die
überall um das Wrack verstreut waren wie umgestürzte
Grabsteine, passten nicht ins Bild.
    Und damit nicht genug. Das Schiff pulsierte und stieß ein
abgehacktes, niederfrequentes Schnurren aus, das Scorpio kaum
hörte, dafür aber tief im Bauch spürte. Das war die
Musik.
    »Das sieht nicht gut aus«, sagte Clavain.
    »Ich spüre Aura nach wie vor«, sagte Khouri.
»Sie ist da drin, Clavain.«
    »Da drin gibt es nicht mehr viel«, sagte er.
    Scorpio sah, wie der Lauf von Khouris Breitenbach-Boser auf
Clavain zuschwenkte und sich dann weiterbewegte. Es war nur ein
Moment, und Khouris Gesicht war nicht anzumerken, dass sie
womöglich im Begriff war, die Kontrolle zu verlieren, aber es
machte ihn doch nachdenklich.
    »Da ist immer noch ein Schiff«, sagte Scorpio. »Es
mag ein Wrack sein, Nevil, dennoch könnte sich jemand an Bord
befinden. Und irgendetwas macht diese Musik. Wir sollten noch nicht
aufgeben.«
    »Niemand hat etwas von aufgeben gesagt«, brummte
Clavain.
    »Die Kälte kommt aus dem Schiff«, stellte Khouri
fest. »Sie strömt heraus, als würde das Schiff sie
ausbluten.«
    Clavain lächelte. »Blutskälte? Sagen Sie das noch
mal.«
    »Wie bitte?«
    »Alter Scherz. Kommt in Norte nicht so gut
herüber.«
    Khouri zuckte die Achseln.
    Sie gingen auf das Wrack zu.
     
    Am Ende des abschüssigen grünlich erleuchteten
Korridors, der sich für Antoinette geöffnet hatte, befand
sich ein riesiger Raum, dessen Größe sie nicht
abschätzen konnte. Nach ihrer Schätzung war sie fünf
bis sechs Decks weit nach unten gegangen war, bevor der Gang eben
wurde, aber es hatte keinen Sinn, ihre Position auf der
vergrößerungsfähigen Taschenversion der Schiffskarte
eintragen zu wollen. Schon bevor die Manifestation sie hier
heruntergeführt hatte, war die Karte hoffnungslos überholt
gewesen.
    Sie blieb stehen und ließ die Taschenlampe brennen. Durch
kiemenähnliche

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