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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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sich mit einer Lüge trösten zu
lassen. War der Betreffende hässlich und jemand sagte ihm, er
wäre schön, dann war der Kontrast zwischen Absicht und
Wirkung umso verletzender, weil er so offensichtlich war, dass er als
hochgradig zynisch empfunden wurde.
    Grelier hatte das Archiv der Kathedrale durchsucht und
jahrhundertealte medizinische Literatur gewälzt, um irgendeine
genetische Prädisposition zu finden, die auf den Zustand des
Mädchens passte. Aber die Unterlagen waren frustrierend
unvollständig. Es gab reichlich Material zum Thema Klonen und
Lebensverlängerung, aber kaum etwas über genetische
Markierungen bei Menschen, die hyperempfindlich für
Mikroveränderungen der Mimik waren.
    Dennoch hatte er sich die Mühe gemacht, Harbins Blutprobe zu
analysieren und insbesondere in den Genen, die mit den
Wahrnehmungszentren des Gehirns assoziiert wurden, nach
Auffälligkeiten oder Anomalien zu suchen. Bei Harbin war die
Gabe sicher bei weitem nicht so stark gewesen wie bei seiner
Schwester, doch auch das wäre ein Hinweis. Wenn es in den Genen
keine signifikanten Unterschiede abseits der normalen Variationen
zwischen nichtidentischen Geschwistern gab, dann hatte es doch eher
den Anschein, als wäre Rachmikas Gabe erworben und nicht ererbt.
Ein Zufall in der Entwicklung vielleicht, ein Umstand in der
frühkindlichen Umgebung, der sich förderlich ausgewirkt
hatte. Tauchte andererseits doch eine Abweichung auf, dann konnte man
die ungleichen Gene vielleicht spezifischen Hirnfunktionsbereichen
zuordnen. In der Literatur wurde vermutet, dass Menschen, die durch
einen Hirnschaden nicht mehr fähig waren, Sprache zu
verarbeiten, mit dieser Fähigkeit das Defizit kompensierten.
Wenn dem so wäre und die zugehörigen Hirnregionen zu
identifizieren wären, dann ließe sich der Zustand
womöglich sogar chirurgisch herbeiführen. An diesem Punkt
ging die Fantasie mit Grelier durch: Er malte sich neuronale
Blockaden aus, die er Quaiche einsetzen könnte, kleine Ventile
und Dämme, die per Fernsteuerung zu öffnen oder zu
schließen wären. Wenn es gelänge, die entsprechenden
Hirnregionen zu isolieren – sie je nach Funktion zu aktivieren
oder zu dämpfen –, wäre es sogar denkbar, die
Fähigkeit an oder abzuschalten. Eine faszinierende Vorstellung.
Man stelle sich vor, ein Unterhändler könnte wählen,
ob er die Lügen seiner Verhandlungspartner durchschauen
wollte.
    Doch zunächst hatte er nur eine Probe des Bruders. Die Tests
hatten keine größeren Anomalien zutage gefördert,
nichts, was ihn auf die Probe aufmerksam gemacht hätte,
wäre er nicht schon vorher an der Familie interessiert gewesen.
Das könnte die Hypothese stützen, dass die Fähigkeit
erworben war. Doch um Gewissheit zu haben, brauchte er auch Blut von
Rachmika Els.
    Der Quästor hatte sich als sehr nützlich erwiesen. Wenn
man ihn richtig anpackte, ließe sich über ihn sicherlich
auch eine Blutprobe von Rachmika beschaffen. Aber warum einen Prozess
stören, der gerade so reibungslos angelaufen war? Der Brief
hatte genau den gewünschten Effekt erzielt. Sie hatte ihn als
Fälschung erkannt, einen Versuch, sie von der Fährte
abzubringen. Sie hatte auch die plumpen Erklärungsversuche des
Quästors für die Existenz dieses Briefes durchschaut. Und
das Manöver hatte sie in ihrem Vorhaben nur noch weiter
bestärkt.
    Grelier lächelte in sich hinein. Nein, er konnte warten: Sie
würde bald hier sein, und dann bekäme er auch sein
Blut.
    So viel, wie er brauchte.
    Es war plötzlich still geworden. Grelier sah sich um. Quaiche
steuerte seine fahrbare Kanzel in den Saal. Das hohe schwarze
Gefährt rollte leise durch den Mittelgang. Ganz oben saß
Quaiche in seinem fast senkrecht gestellten Krankenstuhl. Selbst hier
verlor er Haldoras Licht nicht aus den Augen. Es wurde durch ein
kompliziertes Arrangement aus. Gelenkröhren und Spiegeln vom Glockenturm herabgeleitet. Techniker in langen Gewändern
folgten der Kanzel und justierten die Röhren mit langen Stangen.
Im Halbdunkel des Saales verzichtete Quaiche auf seine Sonnenbrille.
Das Folterinstrument, das seine Augen geöffnet hielt, war
für jedermann sichtbar.
    Für viele von den Anwesenden – ganz sicher für all
jene, die erst in den letzten zwei bis drei Jahren auf die Morwenna gekommen waren, mochte dies das erste Mal sein, dass
sie Quaiche persönlich zu Gesicht bekamen. Er verließ den Glockenturm in letzter Zeit kaum noch. Seit Jahrzehnten waren
Gerüchte über seinen Tod im Umlauf, die sich

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