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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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durch diese
seltenen Auftritte kaum in Schach halten ließen.
    Vor der Versammlung angekommen, fuhr die Kanzel einen Bogen und
blieb schließlich genau unter dem schwarzen Fenster so stehen,
dass Quaiche dem Publikum das Gesicht zuwandte und das Fenster im
Rücken hatte. Im Schein der Kerzen schien er ein fester
Bestandteil der Kanzel zu sein, eine Statue vielleicht wie jene
Heiligenfiguren in Druckanzügen, die in Halbrelieftechnik auf
der unteren Hälfte der Konstruktion prangten.
    »Mein Volk«, sagte er, »lasst uns frohlocken. Dies
ist ein Tag der Wunder, ein Tag des Glücks im
Unglück.« Seine Stimme klang rau und krächzend wie
immer, wurde aber durch versteckte Mikrofone nicht nur
verstärkt, sondern bekam auch mehr Fülle. Hoch oben
untermalte die Orgel seine Ansprache mit dumpfem, kaum hörbarem
Grollen.
    »Seit zweiundzwanzig Tagen fahren wir nun schon dem Hindernis
in der Gullveig-Schlucht entgegen. Wir haben unsere Geschwindigkeit
verringert, wir haben zugelassen, dass Haldora uns überholte,
aber angehalten haben wir nie. Wir hatten auf eine Räumung vor
zwölf bis dreizehn Tagen gehofft. In diesem Fall wären wir
nicht ins Hintertreffen geraten. Doch die Barriere erwies sich als
hartnäckiger, als wir befürchtet hatten. Mit
herkömmlichen Räumungsmethoden war sie nicht zu beseitigen.
Schon bei der Besichtigung der Stelle kamen gute Männer ums
Leben, und beim Anbringen der Sprengladungen waren weitere Opfer zu
beklagen. Ich brauche kaum jemanden von den Anwesenden daran zu
erinnern, wie schwierig die Aufgabe ist: Die Blockade muss beseitigt
werden, aber der Weg darf dabei keinen größeren
Schaden nehmen.« Er hielt inne. Das Kerzenlicht spiegelte sich
in den Drahtbügeln des Lidspreizers und ließ sie golden
aufleuchten. »Aber jetzt ist die gefährlichste Phase
vorüber. Alle Ladungen sind an Ort und Stelle.«
    Die Orgel wurde lauter, und der Chor erhob seine Stimme. Grelier
umklammerte seinen Krückstock fester und kniff die Augen
zusammen. Er wusste, was jetzt kam.
    »Sehet das Gottesfeuer«, sang Quaiche.
    Das schwarze Fenster flammte förmlich auf. Durch jede
Facette, jedes Mosaiksteinchen schossen bunte Lichtstrahlen von
solcher Kraft und Reinheit, dass Grelier sich unversehens in ein
Kinderzimmer voller Farben und Fantasieformen versetzt fühlte.
Künstlich erzeugte Glücksgefühle überfluteten
sein Gehirn, er wollte sich dagegen wehren und spürte doch
gleichzeitig, wie seine Willenskraft ins Wanken geriet.
    Quaiche stand vor dem Fenster auf der Kanzel. Nur seine Silhouette
zeichnete sich ab. Die dürren Arme hielt er hoch erhoben.
Grelier kniff die Augen noch fester zusammen und versuchte, die
Darstellung in dem schwarzen Fenster zu erkennen. Gerade als sich das
Bild erschließen wollte, wurde die gesamte Kathedrale von der
Druckwelle getroffen. Die Kerzen flackerten und erloschen, die
Kronleuchter schwankten.
    Das Fenster wurde wieder schwarz. Doch das Nachbild auf seiner
Netzhaut blieb etwas länger erhalten. Es zeigte Quaiche selbst
auf den Knien vor dem Ehernen Panzer. Das eiserne Ungetüm war
entlang einer Schweißnaht aufgeklappt. Quaiche hatte beide
Hände zur Schale geformt. Sie waren gefüllt mit einer
zähen roten Masse, von der sich dickere und dünnere
Fäden ins Innere des Ehernen Panzers zogen, so als hätte er
hineingegriffen und das klebrige Zeug herausgeholt. Quaiche selbst
schaute nach oben. Sein Blick war auf Haldoras gebänderte Kugel
gerichtet.
    Doch der Planet sah nicht so aus, wie Grelier ihn kannte.
    Das Nachbild erlosch. Grelier fragte sich schon, ob er bis zum
nächsten Eissturz warten müsste, um das Fenster noch einmal
zu sehen, da folgte der ersten Detonation eine zweite und machte das
Bild abermals sichtbar. In Haldoras Antlitz war ein geometrisches
Muster eingearbeitet, das durch die atmosphärischen Bänder
des Gasriesen hindurchstrahlte. Ein dreidimensionales Gitter aus
silbernen Fäden, verwirrend kompliziert wie ein kaiserliches
Wachssiegel. Und im Herzen dieses Gitters, inmitten eines
Strahlenkranzes, stand ein einzelnes menschliches Auge.
    Wieder wurde die Morwenna von einer Druckwelle
erschüttert. Eine letzte Detonation folgte, dann war die
Vorstellung vorüber. Das schwarze Fenster wurde wieder schwarz.
Seine Facetten waren so dick und trüb, dass sie nur durch die
nukleare Strahlkraft von Gottes eigenem Feuer zum Leuchten gebracht
werden konnten.
    Orgel und Chor verstummten.
    »Jetzt kann der Weg geräumt werden«, sagte
Quaiche. »Es wird nicht

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