Offenbarung
Winkel, bei
dem die Observatoren sie nicht einmal aus dem Augenwinkel sehen
konnten, schon gar nicht mit Helm und Kapuze.
Sie hatte nicht die Absicht, durch die Falltür
hinabzusteigen. Aber sie wollte doch wenigstens wissen, wohin sie
führte. Einen kurzen Blick musste sie riskieren. Vielleicht
sähe sie ja nur einen Schacht mit einer Leiter, die in
irgendeiner Luftschleuse endete. Oder aber… eine weitere
Möglichkeit fiel ihr nicht ein. Doch im Geiste sah sie lange
Reihen von Observatoren, die an Maschinen angeschlossen waren, um
für die nächste Schicht frisch gemacht zu werden.
Der Wagen schwankte heftig. Sie fasste nach einem Geländer
und war darauf gefasst, dass die Falltür jeden Moment von innen
zugezogen würde. Noch näher wagte sie sich nicht heran. Die
Observatoren hatten sich bisher ganz friedlich verhalten, aber wie
würden sie reagieren, wenn sie die Grenze zu ihrem Territorium
überschritt? Sie wusste so gut wie nichts über diese Sekte.
Vielleicht hielt sie eine Reihe von ausgefallenen Todesarten für
all jene bereit, die ihre Geheimnisse verletzten. Ein Gedanke schoss
ihr durch den Kopf: Hatte Harbin womöglich genau das getan, was
sie vorhatte? Sie war ihrem Bruder sehr ähnlich. Sie konnte sich
gut vorstellen, dass Harbin nur aus Langeweile auf der Karawane
herumschlenderte, durch Zufall ebenfalls einen Wachwechsel miterlebte
und, neugierig, wie er nun einmal war, nachsehen wollte, was sich da
unten befand. Ein zweiter unerfreulicher Verdacht schloss sich an:
Wenn Harbin nun einer der Observatoren wäre?
Sie schob sich weiter, bis sie die Kante der Falltür
erreichte. Sie war noch immer nicht geschlossen. Von unten
strömte warmes rotes Licht herauf.
Wieder hielt sie sich am Geländer fest, um nicht
hinunterzufallen, sollte der Wagen noch einmal ausscheren. Dann
spähte sie in den Schacht. Eine einfache Leiter führte nach
unten, aber das Ende war von ihrem Standort aus nicht zu
erkennen.
Rachmika ließ das Geländer los und beugte sich vor.
Jetzt sah sie, dass die Leiter auf einem Gitter im Boden stand. Eine
Luke oder eine Tür führte ins Wageninnere – vielleicht
durch eine Luftschleuse, es sei denn, die Observatoren
verbrächten ihr ganzes Leben im Vakuum.
Der Wagen machte einen Satz. Rachmika wurde nach vorn
geschleudert. Sie schlug wild um sich, suchte nach dem Geländer.
Ihre Finger griffen ins Leere. Sie kippte weiter. Vor ihr gähnte
das Loch, der Schaft erschien mit einem Mal viel breiter und tiefer
als zuvor. Rachmika schrie auf. Gleich würde sie
hinabstürzen. Die Leiter befand sich auf der falschen Seite; sie
würde sie nicht zu fassen bekommen.
Doch dann blieb ihr der Schrei in der Kehle stecken. Sie
fühlte sich festgehalten und sanft zurückgezogen. Das Herz
klopfte ihr bis zum Hals. Sie hatte nie verstanden, was mit dieser
Wendung gemeint war, doch jetzt wusste sie es ganz genau.
Sie schaute zu ihrem Retter auf. Nur ihr eigenes verspiegeltes
Visier starrte ihr entgegen, und darin viele weitere Spiegelbilder,
die immer kleiner wurden und schließlich im nicht allzu weit
entfernten Fluchtpunkt verschwanden. Hinter dem Spiegel und der
Kapuze ahnte sie das Gesicht eines jungen Mannes. Das Licht
ließ seine Wangenknochen scharf hervortreten. Er
schüttelte langsam, aber unmissverständlich den Kopf.
Rachmika hatte kaum begriffen, wie ihr geschah, da war auch schon
alles vorbei. Der Observator ging um den Schacht herum an die Seite
mit der Leiter, schwang sich in das Loch und stieg hinab. Rachmika,
die den Schock noch nicht überwunden hatte, trat etwas zu
spät näher und sah gerade noch, wie der Observator mit
einer Hebelvorrichtung die Falltür schloss. Die Klappe drehte
sich um neunzig Grad und verschmolz mit dem Wagendach.
Rachmika war wieder allein.
Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wie hatte sie nur so
töricht, so verantwortungslos handeln können? Wie
unvorsichtig, sich von einem der Pilger retten zu lassen. Wie unklug,
einfach anzunehmen, man hätte ihre Anwesenheit nicht
registriert. Viel zu spät brach die Erkenntnis über sie
herein. Die Pilger hatten sie durchaus bemerkt, sie hatten nur keine
Notiz von ihr genommen. Doch als sie etwas tat, was sich nicht mehr
ignorieren ließ – genauer gesagt, als sie eine Dummheit
machte –, hatte man sie schnell und entschlossen zurechtgewiesen
wie ein ungezogenes Kind. Sie schämte sich, obwohl keine
Verwarnung, kein Vorwurf laut geworden war. Rachmika war
Zurechtweisungen nicht gewöhnt, die Erfahrung war
Weitere Kostenlose Bücher