Offenbarung
gesprochen, niemand hatte die
Schlacht im Raum um Ararat erwähnt, man hatte lediglich zu
gegebener Zeit weitere Informationen in Aussicht gestellt.
Wenig später hatte die Lumpenprozession der Boote eingesetzt.
Inzwischen war das alte Raumschiff von einem schmalen Band aus
hüpfenden Lichtern umringt, und ständig legten neue Boote
vom Festland ab. Die Sicherheitsleute taten, was sie konnten, um die
Schiffchen in der Kolonie festzuhalten, aber sie kämpften auf
verlorenem Posten. Der SD war nicht darauf eingerichtet, eine
ausgewachsene Rebellion niederzuschlagen, Vaskos Kollegen konnten
nicht mehr tun, als den Exodus zu behindern. Andernorts wurde von
Unruhen, von Brandstiftung und Plünderung berichtet, dort
mussten die SD-Leute Verhaftungen vornehmen. Die
Schieberaktivität – was immer sie zu bedeuten hatte –
hielt unvermindert an.
Vasko war froh, keinen Dienst tun zu müssen. Da seine Rolle
bei den Ereignissen dieses Tages noch nicht bekannt war, konnte er
unbehelligt durch die Straßen schlendern und sich die
Gerüchte anhören, die bereits im Umlauf waren. Um den
einfachen Kern der Geschichte – Clavain war bei einer letztlich
erfolgreichen Aktion zur Sicherstellung eines für die Kolonie
sehr wertvollen Objektes ums Leben gekommen – hatten sich viele
Schichten von Spekulationen und Unwahrheiten gebildet. In manchen
Erzählungen wurden die Todesumstände des alten Mannes mit
schier unerschöpflichem Erfindungsreichtum auf das Blumigste
ausgeschmückt.
Vasko spielte den Unwissenden, hielt wahllos kleine Grüppchen
an und fragte sie, was vorgehe. Dabei achtete er darauf, dass niemand
seine Uniform sah und dass er niemanden ansprach, der ihm von der
Arbeit oder aus dem Privatleben bekannt vorkam.
Mit wachsender Empörung, aber todernstem Gesicht hörte
er sich immer neue drastische Schilderungen von Schießereien
und Bombenattentaten, Kriegslisten und Sabotage an. Er fand es
unglaublich, ja beängstigend, wie um Clavains Tod bereits ganze
Epen gesponnen wurden. Die Menschen schwelgten geradezu in
ausufernden Gemeinschaftsfantasien.
Nicht minder bestürzte ihn, dass die Zuhörer die
Geschichten nicht nur begeistert aufnahmen, sondern auch eigene
Vermutungen zum Ablauf der Geschehnisse beisteuerten. Schon wenig
später konnte er sich bei anderen Gesprächen davon
überzeugen, dass die Ausschmückungen bedenkenlos in die
Darstellung übernommen worden waren. Obwohl vieles
widersprüchlich oder nur schwer zu vereinbaren war, schien das
niemanden zu stören. Mehr als einmal hörte er fassungslos,
Scorpio oder ein anderes Mitglied des Ältestenrates sei mit
Clavain gestorben. Dass einige der fraglichen Personen seither an die
Öffentlichkeit getreten waren und kurze beruhigende
Stellungnahmen abgegeben hatten, wurde geflissentlich übersehen.
Mit dumpfer Resignation sah er ein, dass sein eigener Bericht derzeit
nicht mehr wert wäre als die Lügen, die überall die
Runde machten. Er war nicht direkt dabei gewesen, als Clavain starb.
Er könnte die Geschehnisse nur aus seiner Sicht schildern,
sozusagen ›aus zweiter Hand‹, und wer wollte schon eine so
unerfreuliche Geschichte hören, der es auch noch an farbigen
Details mangelte?
Die Menschen wollten in dieser Nacht einen makellosen Helden, und
durch eine geheimnisvolle literarische Metamorphose würden sie
den schließlich auch bekommen.
Jemand rief seinen Namen. Er drängte sich durch den
Pöbel mit seinen Laternen.
»Malinin.«
Er entdeckte nicht gleich, woher die Stimme kam. Dann sah er eine
Frau, die wie in einem selbst geschaffenen Bannkreis stand. Die
Massen umfluteten sie, ohne diesen privaten Raum auch nur ein
einziges Mal zu verletzen. Sie trug einen langen schwarzen Mantel mit
einem üppigen schwarzen Pelzkragen. Die obere Hälfte ihres
Gesichts lag im Schatten einer schwarzen Schildmütze ohne
Abzeichen.
»Urton?«, fragte er unsicher.
»Ich bin es«, sagte sie und trat näher. »Dir
hat man also auch freigegeben. Warum bist du nicht zu Hause und ruhst
dich aus?«
Irgendetwas in ihrem Ton weckte seinen Widerstand. Er hatte immer
noch das Gefühl, ständig von ihr gewogen und für zu
leicht befunden zu werden.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«
»Ich weiß, dass es nach dem, was da draußen
passiert ist, keinen Sinn hätte.«
Er nahm sich vor, es zunächst mit Höflichkeit zu
versuchen und abzuwarten, wie weit er damit käme. »Ich habe
heute Nachmittag zu schlafen versucht«, sagte er. »Aber ich
hörte nur Schreie. Und ich sah
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