Offenbarung
über das Wiedersehen. Sein früheres Ich
wäre darüber tief bestürzt gewesen.
»Wir sind schon zwei alte Knochen«, sagte Remontoire. Er
stand auf, streckte sich und bewegte vorsichtig Arme und Beine, wie
um sich zu vergewissern, dass sie noch richtig in den Gelenken
saßen.
»Ich habe leider schlechte Nachrichten«, sagte
Scorpio.
»Clavain?«
»Es tut mir Leid.«
»Ich dachte es mir natürlich schon. Sobald ich dich sah,
wusste ich, dass er tot sein musste. Wann ist es passiert?«
»Vor ein paar Tagen.«
»Und wie ist er gestorben?«
»Ein grausamer Tod. Aber er starb für Ararat. Und er war
bis zum Ende ein Held, Rem.«
Remontoire zog sich zurück in ein Gedankenreich, zu dem nur
Synthetiker Zutritt hatten. Er machte die Augen zu, hielt sie etwa
zehn Sekunden lang geschlossen und schlug sie wieder auf. Jetzt war
er hellwach, und sein Blick war frei von Schmerz und Kummer.
»Ich habe getrauert«, sagte er.
Scorpio hätte niemals an dieser Aussage gezweifelt.
Synthetiker gingen so mit ihren Gefühlen um. Wie sehr Remontoire
seinen alten Freund und Verbündeten respektierte, ließ
sich daran ermessen, dass er eine Trauerphase überhaupt für
nötig gehalten hatte. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen,
sich in einen Zustand gelassener Resignation zu versetzen. Mit diesem
äußeren Zeichen der Trauer hatte er Clavain in aller Demut
die letzte Ehre erwiesen. Wenn auch nur zehn bis zwölf Sekunden
lang.
»Sind wir in Sicherheit?«, fragte Scorpio.
»Vorerst schon. Eure Flucht war sorgfältig geplant, wir
haben massiv unsere Waffen eingesetzt, um die Wölfe abzulenken.
Wir rechneten damit, dass sie einen Teil ihrer Ressourcen abzweigen
könnten, um euch anzugreifen, aber unsere Hochrechnungen
zeigten, dass sie sich in Schach halten ließen, wenn euer Start
genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgte.«
»Ihr könnt die Wölfe schlagen?«
»Nein, Scorpio, wir können sie nicht schlagen«,
mahnte Remontoire wie ein alter Schulmeister. »Wir können
eine kleine Anzahl von Wolfsmaschinen in einem begrenzten Bereich
überwältigen, wenn wir unsere Energien bewusst darauf
konzentrieren. Wir können sie verletzen, sie
zurückdrängen und sie zwingen, sich neu zu formieren. Aber
eigentlich ist es nur, als wehrte man sich mit Steinwürfen gegen
ein Rudel hungriger wilder Hunde. Gegen größere
Gruppierungen können wir noch immer wenig ausrichten. Und auf
lange Sicht – auch das sagen unsere Hochrechnungen – werden
wir verlieren.«
»Aber bis jetzt habt ihr überlebt.«
»Dank der Waffen und Techniken, die wir von Aura bekommen
haben. Jetzt ist der Brunnen fast ausgetrocknet. Und die Wölfe
verstehen es bemerkenswert gut, auf jeden Zug von uns eine passende
Antwort zu finden.« Jetzt sprach Bewunderung aus Remontoires
Blick. »Diese Maschinen sind sehr leistungsfähig.«
Scorpio lachte. Nach allem, was er durchgemacht hatte, prophezeite
Remontoire ihm nun das Ende? »Dann sind wir also
erledigt?«
»Langfristig sehen die Prognosen, jedenfalls nach den
aktuellen Hochrechnungen, nicht gut aus.«
Hinter Remontoire schloss sich das schwarze Schiff und wurde
wieder zu einem scharfkantigen Schattenkeil.
»Warum geben wir dann nicht gleich auf?«
»Weil eine – wenn auch geringe – Chance besteht,
dass die Hochrechnungen falsch sind.«
»Wir müssen uns ausführlich unterhalten«,
schlug Scorpio vor.
»Und ich weiß auch schon wo«, sagte Antoinette,
die eben eingetreten war. Sie nickte Remontoire nur kurz zu, als
hätten sie sich erst vor ein paar Minuten zum letzten Mal
gesehen. »Kommt alle beide mit. Ich denke, es wird euch
gefallen.«
Hela
2727
Rachmika erblickte die Kathedralen.
Sie hatte sich die Ankunft am Ewigen Weg bisher immer ganz
anders vorgestellt. In ihrer Fantasie war sie einfach da gewesen, ohne lange Annäherung, ohne dass die Kathedralen
zuerst wie kleine, niedliche Bauklötzchen am Horizont
auftauchten. Da waren sie nun, mehr als ein Dutzend Kilometer
entfernt und doch deutlich erkennbar wie die Segelschiffe
früherer Zeiten, deren Bramsegel lange vor den Rümpfen
über den Horizont ragten. Als brauchte sie nur die Hand
auszustrecken, die Faust zu öffnen und jede dieser Kathedralen
zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen. Wenn sie noch ein Auge
schlösse, sähe die Kathedrale mangels Perspektive wie ein
hübsches Spielzeug aus, ein kostbarer magischer Talisman.
Man konnte sich auch vorstellen, sie in der Faust zu
zerdrücken.
Es waren so viele, dass man sie nicht zählen
Weitere Kostenlose Bücher