Offenbarung
Glockenturm und schob die Gittertür zu. Der Korb setzte sich in
Bewegung. Es war ein heller Tag. Das Licht, das durch die Glasfenster
fiel, zeichnete bunte Muster auf sein Gesicht.
»Gefällt Ihnen die Arbeit hier, Miss Els?«
»Es ist Arbeit«, sagte sie.
»Das klingt nicht gerade begeistert. Ich muss schon sagen,
ich bin erstaunt. Wenn man bedenkt, wo Sie hätten landen
können – die Gefahren in einem Räumtrupp –, sind
Sie doch wahrhaftig auf die Füße gefallen.«
Was sollte sie darauf sagen? Dass sie Stimmen hörte, die sie
zu Tode erschreckten?
Nein. Das war nun wirklich nicht nötig. Sie hatte genug
rationale Ängste, auf die sie sich berufen konnte, ohne die
Schatten zu beschwören.
»Wir sind fünfundsiebzig Kilometer von der
Absolutionsschlucht entfernt, Generalmedikus«, sagte sie.
»In weniger als drei Tagen wird diese Kathedrale über die
Brücke fahren.« Sie äffte seinen Tonfall nach.
»Ich muss schon sagen, es gibt Orte, an denen ich lieber
wäre.«
»Das beunruhigt Sie, nicht wahr?«
»Erzählen Sie mir nicht, Sie wären begeistert von
dem Plan.«
»Der Dekan weiß, was er tut.«
»Meinen Sie?«
Grüne und rosarote Lichter huschten über sein Gesicht.
»Gewiss«, sagte er.
»Das glauben Sie doch selbst nicht«, erwiderte sie.
»Sie fürchten sich ebenso sehr wie ich. Sie sind ein
vernünftiger Mensch, Generalmedikus. Sein Blut fließt
nicht in Ihren Adern. Sie wissen, dass man mit dieser Kathedrale
nicht über die Brücke fahren kann.«
»Es gibt immer ein erstes Mal«, sagte er. Ihre
Aufmerksamkeit machte ihn verlegen, er gab sich so große
Mühe, seine Mimik zu beherrschen, dass ein Muskel in seiner
Schläfe zu zucken begann.
»Er hat einen Todeswunsch«, sagte Rachmika. »Er
weiß, dass Haldoras Auslöschungen einem Höhepunkt
zusteuern, und möchte den Anlass mit einem großen Knall
würdigen. Was wäre dazu besser geeignet, als die Kathedrale
in der Tiefe zerschellen zu lassen und selbst zum Märtyrer zu
werden? Noch ist er nur Dekan, wer weiß, ob er nicht danach
strebt, ein Heiliger zu werden?«
»Sie haben etwas vergessen«, sagte Grelier. »Er
denkt über diese Überquerung hinaus. Er bemüht sich um
ein langfristiges Schutzbündnis mit den Ultras. Das passt nicht
zu einem Menschen, der in drei Tagen Selbstmord begehen will. Was
gibt es sonst für eine Erklärung?«
Wenn sie sich nicht sehr irrte, glaubte Grelier, was er sagte. Sie
fragte sich allmählich, inwieweit der Generalmedikus
tatsächlich über Quaiches Pläne informiert war.
»Ich habe auf dem Weg hierher etwas Merkwürdiges
gesehen«, sagte Rachmika.
Grelier strich sich das Haar glatt. Die sonst so makellos
ordentlichen weißen Stoppeln waren zerzaust. Er zeigte Wirkung,
dachte Rachmika. Er hatte nicht weniger Angst als alle anderen, auch
wenn er es sich nicht anmerken lassen durfte.
»Etwas gesehen?«, wiederholte er.
»Gegen Ende der Karawanenfahrt«, sagte sie,
»nachdem wir die Brücke überquert hatten, kamen wir
auf dem Weg zu den Kathedralen an einer riesigen Maschinenflotte
vorbei, die nordwärts fuhr – Geräte für
Erdarbeiten, wie man sie verwendet, um die größeren
Flitzerflöze frei zu legen. Was immer sie wollten, sie hatten
ein Ziel.«
Grelier kniff die Augen zusammen. »Daran ist nichts
Besonderes. Sie hatten sicher den Auftrag, irgendwelche Schäden
am Ewigen Weg zu beheben, bevor die Kathedralen
kamen.«
»Dazu fuhren sie in die falsche Richtung«, sagte
Rachmika. »Und außerdem wollte der Quästor nicht
darüber sprechen. Als hätte er Anweisung bekommen, ihre
Existenz zu leugnen.«
»Was hat das mit dem Dekan zu tun?«
»Eine Aktion dieser Größenordnung könnte doch
nicht ohne sein Wissen stattfinden«, sagte Rachmika.
»Wahrscheinlich hat er sogar die Genehmigung dazu gegeben. Was
glauben Sie, worum es geht? Eine neue Flitzergrabung, die nicht
bekannt werden soll? Hat man etwas gefunden, das man den
gewöhnlichen Bergleuten in den Siedlungen nicht überlassen
kann?«
»Ich habe keine Ahnung.« Das Zucken des
Schläfenmuskels hatte sich festgesetzt. »Ich habe keine
Ahnung, und es ist mir auch egal. Ich bin für den Blutzoll und für die Gesundheit des Dekans verantwortlich. Das ist
alles, und damit habe ich genug zu tun. Ich kann mich nicht auch noch
um interökumenische Verschwörungen kümmern.« Der
Fahrstuhl kam zitternd zum Stehen. Grelier zuckte sichtlich
erleichtert die Achseln. »Da sind wir, Miss Els. Und jetzt bin
ich an der Reihe, die Fragen zu stellen, wenn Sie
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