Offenbarung
Keiner war eingefroren worden: Das Shuttle war nicht
mit Kälteschlaftanks ausgestattet, und als die Wölfe das
Lichtschiff eroberten, hatte man nur mit knapper Not diese gut
tausend Menschen an Bord gebracht. Etliche hunderttausend waren auf
dem Lichtschiff zurückgeblieben und in Wolfskomponenten
umgewandelt worden. Dort waren zum Glück die meisten eingefroren
gewesen. So waren sie immerhin bewusstlos, als ihnen die Wölfe
ihre Sonden in die Köpfe senkten. Vielleicht hatten die Feinde
inzwischen auch schon alle taktischen Informationen gesammelt, die
sie brauchten, und waren an den Menschen nur noch wegen der
Spurenelemente in ihren Körpern interessiert gewesen.
Beim Verhör erzählten Mannschaft und Passagiere wahre
Horrorgeschichten. Einige hatten dokumentarische Aufzeichnungen
mitgebracht: Beobachtungen aus erster Hand vom Angriff der
Wölfe. Bilder von Habitats, die in einer Orgie
zerstörerischer Transformationen zerlegt wurden und,
während sie noch zu Schutt zerfielen, bereits neue
Wolfsmaschinen ausspieen; Bilder von der Zerstörung der wieder
aufgebauten Kuppeln von Chasm City, von Lebewesen und
Besitztümern, die mit der entweichenden Luft in Yellowstones
eisige Atmosphäre gerissen wurden. Bilder von Wolfsmaschinen,
die wie zielstrebige Tintenwolken auf die Ruinen der Stadt
niedergingen, als gäbe es keine Schwerkraft, sich um die bizarr
verkrüppelten Gebäude der Stadt herum verdichteten, mit
ihnen kopulierten und sie bis zum Platzen mit Wolfslaich
füllten. Die Unterdrücker hatten auf tödliche Energien
verzichtet, wo solche Zwangsassimilierungen ebenso erfolgreich
waren.
Doch wenn die Menschen sich wehrten, schlugen die Feinde mit Feuer
zu, das sie direkt dem Vakuum entrissen hatten.
Die Flüchtlinge erzählten von chaotischen Zuständen
im Rostgürtel, als die Menschen auf die wenigen
verbliebenen interstellaren Raumschiffe drängten. Die Panik, die
erbarmungslosen Kämpfe um Kälteschlafplätze hatten
tausende von Opfern gefordert. Gegen Ende hatten einige
Überlebende die Rümpfe von Lichtschiffen aufgeschnitten und
waren eingedrungen, in der Hoffnung, in den engen
Maschinenräumen irgendeine Nische zu finden. Die Ultras, von der
Flüchtlingswelle überrannt, hatten entweder mit eigenen
Waffen zurückgeschlagen oder zugelassen, dass ihre Schiffe
erstürmt wurden. Niemand hatte sich mehr um Papiere
gekümmert und nach Namen oder Krankengeschichten gefragt.
Identitäten waren abgelegt, ganze Lebensläufe in einem
Moment der Verzweiflung beiseite geworfen worden. Die Menschen nahmen
nur ihre Erinnerungen mit. Aber der Kälteschlaf richtete auch
unter den Erinnerungen grausame Verwüstungen an.
Scorpio hatte die Erlaubnis erhalten, von hier unten beim
Ausschiffen zuzusehen, bevor man ihn wegbrachte. Er war nicht
gefesselt – so weit achtete man seine Würde –, aber er
machte sich keine Illusionen. Man war nicht der Meinung, ihm etwas
schuldig zu sein. Dass er zusehen durfte, war ein Zugeständnis,
und das würde man ihn nicht vergessen lassen.
Die Wärter fertigten gerade einen älteren Mann ab, der
offenbar nicht mehr wusste, wer er war. Er war wohl vor nicht allzu
langer Zeit zu schnell aus dem Kälteschlaf geholt worden,
vielleicht während man gefrorene Passagiere von einem Schiff auf
das andere verlegte. Nun redete er aufgeregt auf die SD-Leute ein, um
ihnen etwas begreiflich zu machen, das ihm offensichtlich sehr am
Herzen lag. Er hatte einen grauweißen Schnurrbart, sein
dichtes, grauweißes Haar war ordentlich nach hinten
gekämmt. In diesem Moment schaute er in Scorpios Richtung, und
ihre Blicke trafen sich. Aus den Augen des Fremden sprach der
flehentliche Wunsch, mit einem Lebewesen in Kontakt zu treten, das
fähig wäre, seine Not zu begreifen. Er sehnte sich
verzweifelt nach jemandem, irgendjemandem, der ihn verstand. Es war
kein stummer Hilfeschrei – dieses Gesicht war auch jetzt noch
geprägt von Unabhängigkeit und Stolz –, es ging
einfach darum, jemanden zu finden, der für einen Moment
begriffe, wie ihm zumute war, und einen Teil des emotionalen Drucks
von ihm nähme.
Scorpio wandte sich ab, er konnte dem Mann nicht geben, was er
brauchte. Als er sich wieder umdrehte, war der Flüchtling
abgefertigt und durch die Verbindungstür in das Schiff entlassen
worden. Die SD-Leute hatten bereits die nächste verlorene Seele
in der Mangel. Auf der Unendlichkeit befanden sich jetzt schon
siebzehntausend Schläfer. Kaum anzunehmen, dass ihre Wege sich
noch einmal
Weitere Kostenlose Bücher