Offenbarung
Kern
aus unbrauchbar gewordenen Maschinenschichten und schoss rasend
schnell vorwärts. Für das Geschütz fühlte es sich
an, als würde es mit einem kalten Stahlspieß
gepfählt. Die Spitze durchschlug die Panzerung und das
Gerüst und schoss auf Haldora zu.
Die expandierende Kugel hatte jetzt achtzig Prozent des
Geschützvolumens verzehrt. Druckwellen rasten der
Oberfläche des Gasriesen entgegen: In Nanosekunden wäre das
Geschütz nur noch eine glühende Wolke am hinteren Ende
seines Strahls.
Der Prozessraum war fast aufgebraucht. Das Geschütz begann
höhere Bewusstseinsfunktionen abzuwerfen, Teile seines Ichs.
Seine Vorgehensweise mutete seltsam an: Es war darauf bedacht, ein
winziges Körnchen Intelligenz bis zum allerletzten Moment zu
bewahren. Es gab keine Entscheidungen mehr zu treffen; es konnte nur
noch auf die Zerstörung warten. Aber es musste Bescheid wissen:
Es musste sich so lange an das Bewusstsein klammern, bis es wusste,
was es angerichtet hatte.
Fünfundneunzig Prozent des Weltraumgeschützes waren nur
noch eine Kugel lodernden photoleptonischen Höllenfeuers. Die
Denksysteme waren als hauchdünne Kruste über die Innenseite
der Außenhaut verteilt: eine Kruste, die nun selbst
Sprünge und Risse bekam und von der nach außen rasenden
Druckwelle gesprengt wurde. Die Maschinenintelligenz rutschte die
kognitive Leiter hinab, bis nur noch ein hartnäckiges
Bakterienbewusstsein zurückblieb, das um seine eigene Existenz
und um die Tatsache wusste, dass es eine Aufgabe hatte.
Das Licht durchdrang den letzten Millimeter der Panzerung.
Inzwischen kamen von Haldora die ersten sichtbaren Signale
zurück. Die Kameras auf der Außenhaut des
Weltraumgeschützes gaben die Nachricht an die schrumpfende
Bewusstseinspfütze weiter, das Einzige, was von der einst so
hoch entwickelten Intelligenz geblieben war.
Dann berührte der Strahl den Planeten. Und dann geschah
etwas. Um den Einschlagpunkt herum breiteten sich, optisch verzerrt,
Wellen der Veränderung aus.
Das Bewusstsein schmorte vollends zusammen. Das Letzte, was es
sich gestattete, war ein kurzer Schauer der Befriedigung.
In den Tiefen der Morwenna – in der großen Halle
des Maschinenraumkomplexes – geschahen mehrere Dinge
gleichzeitig: Ein greller Blitz drang über den Kupplungsmuffen
durch die Fensterschlitze mit den nüchternen klaren Scheiben und
durchflutete die Halle. Glaur, der Schichtleiter, blinzelte noch die
Nachbilder weg – die Antriebssysteme hatten sich als klobige
Negative in Grün und Rosa in seine Netzhaut eingebrannt –,
als die so präzise synchronisierte Maschinerie aus dem Takt
geriet. Für einen Augenblick des Schreckens löste sich das
komplizierte Luftballett auf, und Stangen, Ventile und Kompensatoren
schienen sich aus der Verankerung reißen und sich selbst und
alles, was ihnen in die Quere kam, zu einem Brei aus blutigem Fleisch
und Metall zerschlagen zu wollen.
Doch das war gleich vorüber. Fliehkraftregler und
Dämpfer taten ihre Pflicht und zwangen die Bewegung in den
gewohnten Synkopenrhythmus zurück. Die Mechanik protestierte
schmerzhaft und ohrenbetäubend schrill, als sich hunderte von
Tonnen Masse gegen ihre Fesseln stemmten, aber Scharniergelenke und
Ventilmuffen hielten, nichts kam auf ihn zugeflogen. Erst jetzt
bemerkte Glaur, dass am Reaktor und an den Kästen mit den
Servokontrollen für den Hauptantrieb die Warnlichter
blinkten.
Die Koordinationsstörungen innerhalb des Maschinenraums waren
unter Kontrolle gebracht worden, aber die betroffenen Elemente waren
nur ein Teil der Kette: Der Prozess griff weiter um sich. Binnen
einer halben Sekunde hatte er die luftdicht abgeschlossenen
Wandöffnungen überwunden und setzte sich im Vakuum fort.
Hätte jemand die Morwenna aus der Ferne beobachtet, so
hätte er sehen können, wie die sonst so fließenden
Bewegungen der Stützpfeiler ins Stocken gerieten. Glaur brauchte
nicht draußen zu sein, er wusste auch so, was gleich geschehen
würde, es stand vor seinem inneren Auge wie eine
Konstruktionszeichnung. Seine Hand suchte bereits nach einem Griff,
bevor er sich bewusst dazu entschlossen hatte.
Die Morwenna stolperte. Das Auf und Ab der ungeheuren
Massen, das normalerweise durch Gegengewichte so ausbalanciert wurde,
dass das Schreiten der Kathedrale selbst ganz oben im Glockenturm kaum zu spüren war, geriet nun bedenklich aus dem
Gleichgewicht. Die Kathedrale schwankte erst nach der einen, dann
nach der anderen Seite. Die Katastrophe war absehbar.
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