Offenbarung
Eine neue
Störung durchlief die Antriebsmechanismen, und der ganze Vorgang
wiederholte sich, bevor das erste Schwanken abgefangen werden
konnte.
Glaur biss die Zähne zusammen und hielt sich fest. Entsetzt
sah er, wie der Boden sich gleich um mehrere Grad neigte. Sirenen
begannen zu heulen; überall im Gewölbe blinkte es rot.
Aus dem pneumatischen Lautsprechersystem ertönte eine Stimme.
Er griff nach dem Mundstück.
»Hier spricht der Generalmedikus. Was ist los?«
Der Schichtmeister musste schreien, um den Lärm zu
übertönen. »Hier Glaur, Sir. Ich weiß es nicht.
Da war ein Blitz… dann spielten die Systeme verrückt. Es
kann nicht sein, sonst würde ich sagen, jemand hat soeben eine
starke Sprengladung gezündet und unsere Elektronik
getroffen.«
»Es war keine Atombombe. Ich wollte wissen, wie es um die
Steuerung steht.«
»Die Kathedrale ist ganz auf sich gestellt, Sir.«
»Wird sie umkippen?«
Glaur sah sich um. »Nein, Sir. Nein.«
»Wird sie vom Weg abkommen?«
»Nein, Sir, auch das nicht.«
»Gut. Ich wollte mich nur vergewissern.« Grelier hielt
inne. Glaur hörte ein seltsames Geräusch, fast wie das
Pfeifen eines Wasserkessels. »Glaur… was meinten Sie mit
›die Kathedrale ist auf sich gestellt‹?«
»Ich meine, dass sich die automatische Steuerung
eingeschaltet hat, Sir, das ist in Notfällen so vorgesehen. Die
manuelle Steuerung ist für sechsundzwanzig Stunden gesperrt. Das
hat Hauptmann Seyfarth veranlasst, Sir. Angeblich auf Anweisung vom Glockenturm. Damit wir nicht anhalten, Sir. Damit wir nicht
anhalten können.«
»Danke«, sagte Grelier ruhig.
Hoch am Himmel war Haldora in ernsten Schwierigkeiten. Wo der
Strahl des Weltraumgeschützes den Planeten getroffen hatte, war
eine Welle in konzentrischen Kreisen nach außen gerast. Das
Geschütz selbst gab es nicht mehr; sogar der Strahl war im
Gasriesen verschwunden, und wo sich die Waffe aktiviert hatte, hing
nur noch eine silbrig weiße Wolke, die sich rasch
verflüchtigte.
Aber die Wirkungen setzten sich fort. Innerhalb der Wellenkreise
fehlten die üblichen Wirbel und Bänder der Gasriesenchemie.
Stattdessen war dort ein glatter rubinroter Fleck ohne jede Struktur
entstanden, der innerhalb von Sekunden so anwuchs, dass er den ganzen
Planeten erfasste. An Stelle von Haldora starrte nun grimmig ein
blutunterlaufenes Auge auf Hela herab.
Die rubinrote Sphäre blieb ein paar Sekunden lang
unverändert, dann entwickelten sich erste Muster: keine Kommas
und Pferdeschwänze, die die Grenzen zwischen verschiedenen
chemischen Stoffen markierten, keine differenzierten
Rotationsgürtel, keine Zyklopenaugen größerer
Sturmsysteme. Diese Muster waren so präzise und
gleichmäßig, als wäre ein Teppichknüpfer am Werk
gewesen. Sie wurden schärfer, als würde der Flor von
unsichtbarer Hand geglättet, und schließlich
veränderten sie sich: Aus einem sauber geschnittenen
Gartenlabyrinth wurde ein Gehirn mit angedeuteten Furchen. Die Farbe
wechselte von Rubinrot über Bronze zu dunklem Silber. Der Planet
stülpte tausend Stacheln aus, die kurz verharrten, um dann zu
einem glatten Quecksilbermeer zu zerfallen. Aus dem Meer wurde ein
Schachbrett und aus dem Schachbrett ein kugelförmiges Stadtbild
von fantastischer Komplexität. Und dieses Bild zerfiel
schließlich im Chaos eines Weltuntergangs.
Der Planet kehrte zurück. Aber er war nicht mehr derselbe.
Binnen eines Lidschlags wurde aus Haldora ein anderer Gasriese. Der
Vorgang wiederholte sich – jedes Mal veränderten sich Farbe
und Bänderung. Ringe erschienen am Himmel. Eine Girlande von
Monden auf unmöglichen Bahnen. Zwei Ringe, die sich im Winkel
schnitten und durcheinander hindurch glitten. Ein Dutzend vollkommen
quadratischer Monde.
Ein Planet, aus dem wie aus einer Hochzeitstorte ein Stück
herausgeschnitten war.
Ein Planet, in dem sich die Sterne spiegelten.
Ein zwölfflächiger Planet.
Dann nichts mehr.
Sekundenlang hing eine schwarze Kugel reglos am Himmel. Dann
begann sie zu wabbeln wie ein Luftballon voller Wasser.
Der gewaltige Tarnmechanismus war endgültig am
Zusammenbrechen.
Fünfundvierzig
Quaiche griff sich leise wimmernd an die Augen und wiederholte
gebetsmühlenartig die Klage: Ich bin blind, ich bin
blind.
Grelier legte das Mundstück des pneumatischen Lautsprechers
aus der Hand.
Er beugte sich über den Dekan, zog ein optisches Gerät
mit blankem Elfenbeingriff aus der Tasche seines Kittels und richtete
es auf Quaiches nackte Augen,
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