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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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ihm
brütete, eine schwarze Kugel mit nur einem schmalen beleuchteten
Streifen, Haldora. Quaiche wandte sich kurz dem Gasriesen zu und
beobachtete amüsiert die Gewitterstürme, die mit grellen
Blitzen über sein dunkles Antlitz tobten. Lichtbögen
schlängelten sich faszinierend langsam wie voll gefressene Aale
über die Oberfläche.
    Hela bekam im Moment noch Licht von der Sonne des Systems, aber
bald würde es auf seiner Bahn um Haldora in den Schatten des
Planeten eintreten. Ein Glück, dachte Quaiche, dass die
Echoquelle auf dieser Seite des Mondes lag und ihm das beeindruckende
Schauspiel des alles beherrschenden Gasriesen beschert hatte.
Wäre er später im Rotationszyklus eingetroffen, dann
hätte sich der Riss natürlich auf der von Haldora
abgewandten Seite befunden. Einhundertsechzig Tage früher oder
später, und er hätte diesen überwältigenden
Anblick verpasst.
    Wieder zuckte ein Blitz auf. Nur ungern wandte Quaiche sich wieder
Hela zu.
    Er überflog soeben die Kante der Ginnungagap-Spalte. Hier
ging es erschreckend steil in die Tiefe. Obwohl die Schwerkraft nur
ein Viertel Ge betrug, war der Höhenschwindel ebenso stark wie
auf einer schwereren Welt. Das war auch sinnvoll, denn ein Sturz in
die Spalte wäre selbst hier noch tödlich gewesen. Obendrein
gab es keine Atmosphäre, die ein fallendes Objekt abgebremst
hätte, keine Grenzgeschwindigkeit, die zumindest eine schwache
Chance offen ließe, einen Unfall zu überleben.
    Egal. Die Tochter hatte ihn noch nie im Stich gelassen,
warum sollte sie gerade jetzt damit anfangen? Er konzentrierte sich
auf das Bauwerk, das er näher untersuchen wollte, und ließ
das Schiff bis unter die interpolierte Bodenhöhe sinken.
    Dann wendete er und flog der Länge nach durch die Spalte. Er
war auf seiner Seite ein bis zwei Kilometer weit nach innen
abgetrieben worden, aber die andere Wand wirkte dadurch nicht
näher. Die Wände waren nicht überall gleich weit
voneinander entfernt, aber hier am Äquator war die Spalte
überall mindestens fünfunddreißig Kilometer breit. An
der flachsten Stelle hatte sie eine Tiefe von fünf bis sechs
Kilometern, und an den steilsten und engsten Strecken fiel der
Talboden bis auf zehn oder elf Kilometer ab. Ein verdammt tiefer Riss
in der Mondkruste. Quaiche fühlte sich zunehmend unwohl. Er
hatte das Gefühl, in einer Bügelfalle zu stecken, die
gleich zuschnappen würde.
    Er sah auf die Uhr: Noch vier Stunden, bis die Dominatrix von der anderen Seite von Haldora wieder auftauchte. Vier Stunden
waren eine lange Zeit; bis dahin sollte er längst auf dem
Rückweg sein.
    »Durchhalten, Mor«, sagte er. »Bald ist es
vorbei.«
    Sie konnte ihn natürlich nicht hören.
    Er war südlich vom Äquator in die Spalte eingeflogen und
strebte nun der nördlichen Hemisphäre zu. Unter ihm floss
der zerklüftete Boden träge dahin. Vor der fernen Wand war
die Schiffsbewegung kaum wahrzunehmen, aber die nähere Wand
raste so schnell vorüber, dass er doch einen gewissen Eindruck
von seiner Geschwindigkeit bekam. Gelegentlich verlor er das
Gefühl für die Dimensionen, und die Spalte erschien ihm
längst nicht mehr so groß. Solche Momente waren
gefährlich. Gerade wenn eine fremde Landschaft anfing, vertraut,
anheimelnd und beherrschbar zu wirken, kam gewöhnlich der
tödliche Schlag.
    Plötzlich stieg zwischen den Wänden die Brücke
über den Horizont. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Jetzt war
endgültig kein Zweifel mehr möglich: Sie war ein
künstliches Bauwerk, aus dünnen, glänzenden Fäden
gesponnen. Er wünschte, Morwenna wäre hier und könnte
sie sehen.
    Er zeichnete alles auf, während Kilometer über ihm die
Brücke immer näher kam: ein geschwungener Bogen, auf beiden
Seiten über eine verwirrend komplizierte, filigrane
Stützkonstruktion mit den Wänden verbunden. Kein Grund,
noch länger zu verweilen. Wenn er den Bogen einmal durchflog,
müsste das genügen, um Jasmina zu überzeugen. Wenn sie
wollte, konnte sie ja später mit leistungsfähigeren
Geräten zurückkommen.
    Quaiche blickte staunend nach oben, als er den Bogen passierte.
Die Fahrbahn – wie sonst sollte er es nennen? – zeichnete
sich schwach leuchtend vor dem finsteren Gasriesen ab und teilte
Haldoras Antlitz wie ein dünnes, milchig weißes Band in
zwei Hälften. Wie mochte es wohl sein, sie zu Fuß zu
überqueren?
    Die Tochter scherte so heftig aus, dass rote Schleier
seinen Blick trübten.
    »Was…?«, begann Quaiche.
    Die Frage erübrigte sich: Die Tochter

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