Offenbarung
tiefgefrorenen Pilgern an Bord. Nicht alle suchten
nach Antworten in der Religion, aber wer auf Hela blieb, bekam es
früher oder später mit dem Blutzoll-Offizium zu tun.
Und danach hatte die Welt ein anderes Gesicht.
Rachmika hatte ein gewisses Verständnis für diese
Menschen. Manchmal dachte sie, wenn sie nicht hier geboren wäre,
hätte vielleicht auch sie diese Pilgerfahrt unternommen, wenn
auch aus anderen Motiven. Sie war auf der Suche nach der Wahrheit.
Die gleiche Leidenschaft hatte Sylveste nach Resurgam getrieben,
hatte ihn mit seiner Kolonie in Konflikt gebracht und letztlich zu
seinem Tod geführt.
Linxes Frage fiel ihr wieder ein. Wollte sie wirklich Harbins
wegen zum Ewigen Weg, oder war Harbin nur ein Vorwand, hinter
dem sie – vor sich selbst wie vor allen anderen – den
wahren Grund für ihre Reise verbarg?
Die Antwort, es ginge ihr allein um Harbin, war ihr so automatisch
über die Lippen gekommen, dass sie selbst daran geglaubt hatte.
Doch jetzt war sie nicht mehr so sicher. Rachmika sah sofort, wenn
andere logen. Aber ihr eigenes Lügengespinst zu durchschauen,
war doch etwas anderes.
»Es geht um Harbin«, flüsterte sie.
»Ich will meinen Bruder finden, nichts anderes
zählt.«
Aber sie konnte nicht aufhören, an die Flitzer zu denken. Als
sie, den Becher mit Schokolade noch in den Händen,
schließlich einnickte, verfolgten die Flitzer sie bis in ihre
Träume, und die Teile ihrer bizarren Insektenkörper
fügten sich in endlosen Permutationen zu immer neuen Formen
zusammen.
Rachmika wurde von unsanften Stößen aus dem Schlaf
gerissen. Der Eisjammer war langsamer geworden, und die Unebenheiten
der Piste waren stärker zu spüren.
»Weiter kommen wir heute wohl nicht mehr«, sagte Crozet.
»Ich suche uns noch eine Stelle, wo wir nicht sofort zu sehen
sind, und da bleiben wir dann bis morgen früh. Ich bin am
Ende.« Sein Gesicht war grau vor Erschöpfung, aber für
Rachmika sah er nicht viel anders aus als sonst.
»Lass mich mal ans Steuer, Liebster«, sagte Linxe.
»Ich fahre noch zwei Stunden weiter, damit wir auch wirklich in
Sicherheit sind. Ihr beiden geht inzwischen nach hinten und nehmt
eine Mütze voll Schlaf.«
»Hier kann uns doch auch nichts passieren«, sagte
Rachmika.
»Lass das mal meine Sorge sein. Ein paar Meilen mehr
können nicht schaden. Und jetzt verschwinde und versuche zu
schlafen, mein Fräulein. Wir haben morgen wieder einen harten
Tag vor uns, und ich kann dir nicht versprechen, dass wir dann das
Schlimmste überstanden haben.«
Linxe rutschte bereits auf den Fahrersitz und betätigte mit
ihren Patschhänden die abgewetzten Knöpfe und Schalter. Bis
Crozet von Anhalten und Übernachten gesprochen hatte, war
Rachmika davon ausgegangen, dass die Maschine einfach etwas langsamer
mit Automatiksteuerung weiterfahren würde. Als sie nun erfuhr,
dass sich der Eisjammer keinen Meter bewegte, ohne dass jemand
manuell die Steuerung betätigte, war sie aufrichtig
schockiert.
»Ich springe gern ein«, erbot sie sich. »Ich habe
zwar noch nie so ein Ding gelenkt, aber wenn mir jemand zeigt,
wie…«
»Wir kommen schon klar, Schätzchen«, sagte Linxe.
»Crozet und ich sind ja nicht allein. Morgen kann auch Culver
eine Strecke übernehmen.«
»Ich möchte nicht…«
»Ach, lass Culver nur fahren«, sagte Crozet. »Dann
weiß er wenigstens, wo er seine Hände zu lassen
hat.«
Linxe gab ihrem Mann einen Klaps auf den Mund, aber sie
lächelte dabei. Rachmika trank ihren Becher leer. Die Schokolade
war kalt geworden. Sie war hundemüde, aber den ersten Tag hatte
sie immerhin gut überstanden. Natürlich würde es noch
schlimmer kommen, darüber machte sie sich keine Illusionen, aber
vermutlich musste man jede einzelne Etappe wie einen kleinen Sieg
feiern. Zu gern hätte sie ihren Eltern versichert, sie brauchten
sich keine Sorgen machen, sie sei gut vorangekommen und denke die
ganze Zeit an sie. Aber sie hatte sich geschworen, erst eine
Nachricht nach Hause zu schicken, wenn sie die Karawane erreicht
hätte.
Crozet ging mit ihr nach hinten. Der Eisjammer ratterte und bebte.
Seit Linxe am Steuer saß, verhielt er sich anders. Sie fuhr
nicht schlechter und auch nicht besser als Crozet, aber sie hatte
eindeutig ihren eigenen Stil. Der Eisjammer schnellte sich in langen,
schwebenden Bögen vorwärts, die Rachmika rasch in Schlaf
wiegten. Aber sie schlief unruhig und träumte ständig
davon, in die Tiefe zu stürzen.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, erwartete sie
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