Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
Scorpio an. »Kommen Sie nicht mit, Sir?«
    »Ich komme gleich nach. Gehen Sie voraus und stellen Sie sich
einstweilen vor. Sagen Sie nur, Sie sind Vasko Malinin,
Angehöriger des SD, und Sie hätten an der Mission zur
Rückholung Clavains teilgenommen – und dann reden Sie kein
Wort mehr, bis ich da bin.«
    »Ja, Sir.« Vasko zögerte. »Sir, noch
etwas?«
    »Nämlich?«
    »Was meinte er mit Erscheinungen?«
    »Das braucht Sie nicht zu kümmern«, sagte
Scorpio.
    Vasko und der SD-Mann verschwanden im Bauch des Schiffes. Scorpio
sah ihnen nach, bis ihre Schritte verklungen waren und er sicher sein
konnte, auf dem Landedeck allein zu sein. Dann ging er zurück
zum Eingang und stellte sich so dicht an die Kante, dass er sie mit
den Spitzen seiner stumpfen Kinderzehen fast berührte.
    Der Wind blies ihm heftig ins Gesicht, obwohl er heute nicht
einmal besonders stark war. Scorpio fürchtete, hinausgeweht zu
werden, obwohl er aus Erfahrung wusste, dass einen der Wind
gewöhnlich nach innen drückte. Dennoch hatte er eine Hand
am linken Türrand, falls er bei einer besonders starken Bö
das Gleichgewicht verlieren sollte. Die Augen tränten ihm, und
so sah er nur undeutlich, wie sich das klauenförmige Flugzeug in
die Kurve legte und verschwand. Nun schaute er hinab auf die Kolonie,
die trotz Clavains Rückkehr noch immer weitgehend ihm
unterstellt war.
    Kilometerweit jenseits der Bucht funkelten die Lichter von Lager
eins. Um Einzelheiten zu unterscheiden, war er zu weit entfernt. Nur
die größten Gebäude wie die Hohe Muschel hoben sich
ab, und auch sie wirkten von hier oben flach und fast unscheinbar.
Das muntere Treiben, die Schäbigkeit, der Schmutz der
Barackenviertel waren unsichtbar. Alles wirkte geradezu unheimlich
sauber und so ordentlich, als wäre es nach strengen Gesetzen
geplant worden. Es hätte eine Stadt auf irgendeiner Welt in
irgendeiner Epoche sein können. Aus Küchen und Fabriken
stieg dünner Rauch auf. Sonst waren keine einzelnen Bewegungen
zu erkennen. Aber die ganze Siedlung zitterte und bebte wie im
Fieber, flirrte und waberte wie unter einen Hitzeschleier.
    Scorpio hatte lange geglaubt, nicht außerhalb von Chasm City
leben zu können. In dieser Stadt mit ihrem rauschenden Leben,
ihren verwickelten Strukturen war er in seinem Element gewesen. Er
hatte die Gefahren kaum weniger geliebt als die Herausforderungen und
die Chancen. Jeden Tag musste er mit ernst zu nehmenden
Mordanschlägen von sechs oder sieben rivalisierenden Gruppen,
sowie mit einem weiteren Dutzend so schlecht geplanter
Attentatsversuche rechnen, dass er gar keine Notiz davon nahm. Und
jeden Tag konnte er selbst den Befehl geben, einen seiner Feinde ins
Jenseits zu befördern. Scorpio nahm solche Dinge immer
persönlich.
    Nicht jeder war für das Leben eines Schwerverbrechers in
Chasm City geschaffen. Viele brachen unter der Belastung zusammen
– brannten innerlich aus, zogen sich in die fest umrissene Welt
der Kleinkriminalität zurück, aus der sie kamen, oder
begingen Fehler, aus denen sie nicht mehr lernen konnten.
    Scorpio war nie zusammengebrochen, und wenn er Fehler begangen
hatte, dann immer nur einmal – und nicht unbedingt aus eigener
Schuld. Immerhin herrschte damals noch Krieg. Die Regeln
änderten sich so schnell, dass er sich hin und wieder sogar auf
der Seite des Gesetzes wiederfand. Das hatte ihn zu Tode
erschreckt.
    Und dann hatte er einen Fehler gemacht, der fast sein letzter
gewesen wäre. Er war zuerst den Zombies und dann den Spinnen in
die Hände gefallen… und so unter Clavains Einfluss geraten.
Am Ende stand er vor einer einzigen Frage: Wenn ihn Chasm City so
ausschließlich geprägt hatte, wie konnte er dann ohne
diese Stadt weiterleben?
    Er hatte eine Weile gebraucht, eine Antwort zu finden –
letztlich bis zu dem Moment, als Clavain fortging und ihn mit der
Kolonie allein zurückließ.
    Eines Morgens war er einfach aufgewacht und hatte sich nicht mehr
nach Chasm City zurückgewünscht. Sein Ehrgeiz richtete sich
nicht länger auf so alberne, egoistische Ziele wie Reichtum,
Macht oder Ansehen. Einst hatte er Waffen und Gewalt vergöttert.
Jähzornig war er noch immer, aber er konnte sich kaum noch
erinnern, wann er zum letzten Mal eine Schusswaffe oder ein Messer
zur Hand genommen hatte. Die Zeit der Fehden und Racheakte, der Morde
und Betrügereien war vorbei, jetzt steckte er bis über
beide Ohren in Quoten, Budgets, Nachschublinien und dem verwirrenden
Sumpf zwischenmenschlicher Beziehungen.

Weitere Kostenlose Bücher