Offenbarung
Lager eins war keine
große Stadt – eigentlich war es nicht einmal eine richtige
Stadt –, aber mit seiner Verwaltung und der Verwaltung der
Kolonie insgesamt war er vollauf beschäftigt. Damals in Chasm
City hätte er das nie für möglich gehalten, doch jetzt
stand er da wie ein König und blickte über sein Reich. Er
hatte einen weiten Weg zurückgelegt und viele
Rückschläge hinnehmen müssen, doch irgendwann –
vielleicht an jenem ersten Morgen, an dem er aufwachte, ohne sich
nach seinem früheren Leben zurückzusehnen – war er so
etwas wie ein Staatsmann geworden. Jemandem, der sein Leben als
Kontraktsklave ohne eigenen Namen begonnen hatte, hatte man diese
Entwicklung nicht an der Wiege gesungen.
Jetzt musste er befürchten, alles wieder zu verlieren. Er
hatte von vornherein gewusst, dass sie nicht für immer auf
dieser Welt bleiben würden, sie war nur eine Zwischenstation, wo
er mit seiner Flüchtlingsgruppe warten sollte, bis Remontoire
und die anderen zu ihnen stießen. Doch die Zeit verging, die
Zwanzigjahresgrenze wurde erreicht, ohne dass etwas geschah, und
allmählich war er der Illusion erlegen, die Kolonie könnte
doch von Dauer sein. Vielleicht hatte sich Remontoire nicht nur
verspätet. Vielleicht würde der große Kampf zwischen
der Menschheit und den Unterdrückern seine Welt aussparen.
Solchen Hoffnungen waren nie sehr realistisch gewesen, und jetzt
musste er dafür bezahlen. Remontoire war eingetroffen, aber
nicht allein, er hatte auch den Krieg mitgebracht. Wenn Khouris
Aussagen stimmten, war die Lage mehr als ernst.
In der Ferne funkelten die Lichter. Die Stadt wirkte so
vergänglich wie eine Staubschicht, die jeder Windstoß
davonblasen könnte. Scorpio überfiel eine dumpfe Vorahnung.
Jemand, der ihm nahe stand, schwebte in Lebensgefahr.
Er riss sich von dem Anblick los, drehte sich ruckartig um und
strebte dem Konferenzraum zu.
Dreizehn
Ararat
2675
Der Konferenzraum lag tief im Innern des Schiffes in jenem
kugelförmigen Bereich, wo sich einst die Brücke, die
Kommandozentrale des riesigen Fahrzeugs befunden hatte. Der Weg
dorthin glich inzwischen einer Expedition durch ein ausgedehntes
Höhlensystem: ein Labyrinth aus kalten, vielfach gewundenen
Gängen und spiralförmigen Tunnels, über unzählige
Knotenpunkte und durch Schwindel erregend tiefe Schächte. Es gab
Nebenkammern, in denen jeder Schritt widerhallte, und Engstellen, an
denen man Platzangst bekam. Über die Wände wucherten
unheimliche Gebilde: hier ein Schaumklumpen wie ein Geschwür,
dort eine grausig verästelte Masse, die an versteinertes
Lungengewebe erinnerte. Von der Decke fielen unablässig
zähe Tropfen auf den Boden. Scorpio wich den Hindernissen und
den Pfützen mit der Geschicklichkeit langer Übung aus. Die
Absonderungen des Schiffes waren nicht wirklich gefährlich
– chemisch waren sie eher neutral –, aber selbst jemanden,
der im Mulch gelebt hatte, konnte der Ekel
überwältigen. Wäre das Schiff einfach nur eine
Maschine gewesen, dann hätte er es ertragen. Aber er konnte
nicht vergessen, dass vieles, was er sah, auf geheimnisvolle Weise
ein Produkt der Erinnerung an den biologischen Körper des
Captains war. Ob er sich in einem Schiff befand, das gewisse
biologische Attribute übernommen hatte, oder in einem zur
Größe und Form eines Schiffs angeschwollenen Körper,
war Definitionssache.
Scorpio kümmerte es wenig, welche Definition die treffendere
war: Er fand sie beide abstoßend.
Endlich hatte er den Konferenzraum erreicht. Nach den
düsteren Korridoren war es hier wunderbar hell und sauber. Man
hatte in die ursprünglich kugelförmige Kommandozentrale
einen Fußboden eingezogen und einen ausreichend großen
Konferenztisch aus Holz aufgestellt. Über dem Tisch hing wie ein
überdimensionierter Lüster ein instand gesetzter Projektor,
der in schneller Folge Schemaansichten des Planeten und des
unmittelbaren Luftraums zeigte.
Clavain wartete bereits. Seine steife schwarze Paradeuniform
hätte zu keinem Zeitpunkt in den letzten achthundert Jahren
auffallend unmodern gewirkt. Er hatte zugelassen, dass man sein
Äußeres noch weiter aufpolierte: Die Falten und Schatten
in seinem Gesicht waren zwar noch vorhanden, aber nachdem er ein paar
Stunden geschlafen hatte, war er nun zumindest als Clavain zu
erkennen. Er hatte einen Ellbogen auf die spiegelblanke schwarze
Tischplatte gestützt und strich sich den sauber gestutzten Bart.
Mit der anderen Hand trommelte er einen Zapfenstreich
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