Offene Rechnungen
Tisch und überließ den beiden Frauen das Reden, während er über die angedeuteten Möglichkeiten nachdachte. Die Beobachtungen von Ilona Specht ließen viel Raum für Spekulationen. Einem unbedarften Zuhörer mussten die Theorien extrem an den Haaren herbeigezogen erscheinen. Tobias Landau und Heike Sonntag hatten jedes Recht, auch in der Nacht im Zentrum zu sein. Dieser Umstand allein dürfte nicht ausreichen, um aus ihnen eine kriminelle Vereinigung zu machen. Doch genau in diese Richtung gingen Julianes Überlegungen und damit schuf die Psychologin auch gleich ein Motiv für die Anwesenheit von Ralph Wiese sowie für dessen Ermordung. Zu Simons Verwunderung widersprach Esther ihrer Freundin nicht grundsätzlich, sondern nur in der sich daraus ergebenden Handlungsweise.
»Was denkt unser schweigender Doktor?«
Juliane schaute Simon auffordernd an. Da er sich in seine eigenen Überlegungen vertieft hatte, fehlte Simon der Faden des anderen Gespräches.
»Geträumt hat er! Mann, Simon. Hättest du vielleicht die Freundlichkeit, dich an dem Gespräch zu beteiligen? Sollen wir deiner Ansicht nach die nächsten Schritte dem Herrn vom LKA überlassen oder lieber selbst die Initiative ergreifen?«
Simon warf Esther einen Seitenblick zu, doch die Oberkommissarin machte eine unbeteiligte Miene. Von ihrer Seite durfte der Arzt keine Hilfe erwarten, also wählte er den Weg des geringsten Widerstandes.
»Wir sollten selbst aktiv werden«, schlug er sich auf Julianes Seite.
»Zwei zu eins! Damit sind die Würfel gefallen. Wir fahren bei mir zu Hause vorbei und nehmen eine Thermoskanne voll Kaffee mit. Eine Packung Kekse sollten sich auch noch finden lassen.«
Simon schaute die rothaarige Frau überrascht an, deren Augen vor Begeisterung funkelten. Wofür sollten denn diese seltsamen Vorkehrungen notwendig sein?
»Falls es dir nicht aufgefallen ist, lieber Simon. Du hast dich soeben für eine nächtliche Oberservierung des Zentrums entschieden. Juliane und du werdet also die kommende Nacht im Auto auf dem Parkplatz verbringen. Ich für meinen Teil gehe nach Hause und leiste meiner Mutter Gesellschaft«, erklärte Esther mit einem schmalen Lächeln.
Simon konnte nicht fassen, in was für eine Situation er sich gebracht hatte.
»Das geht nicht, Jule! Ich habe seit heute Vormittag um sechs Uhr Dienst geschoben und muss morgen um die gleiche Zeit wieder im Krankenhaus sein«, protestierte er.
Mit einem gehässigen Lächeln beugte Juliane sich vor und streichelte besänftigend über Simons Wange.
»Wir lösen uns alle zwei Stunden ab, Darling. Du bekommst also deinen Schönheitsschlaf.«
Zu seinem Entsetzen erkannte Simon, dass jeder Widerstand völlig aussichtslos war. Er schwor sich, in Zukunft nie wieder eigene Gedanken in Anwesenheit der Psychologin zu verfolgen. Die Konsequenzen waren offensichtlich fürchterlich.
*
Simon wickelte sich fester in die Fleecedecke, die er von Julianes Sofa genommen hatte. Die Psychologin kauerte auf dem Beifahrersitz seines Audis und hob regelmäßig ihr Opernglas vors Auge. Als Beobachtungsstandort hatten sie sich das einige Hundert Meter entfernte Gebäude einer sozialen Einrichtung ausgesucht. Simon fand diese Entscheidung nicht so glücklich, weil außer dem Audi kein weiteres Fahrzeug auf dem Parkplatz stand. Zudem hatte ein zufälliger Beobachter vom Seiteneingang des Zentrums den gleichen freien Blick auf diesen Parkplatz, wie eben umgekehrt Simon und Juliane.
»Noch immer nichts zu sehen«, murmelte Juliane und setzte das Opernglas wieder ab.
»Falls überhaupt etwas passiert.«
Für seine Zweifel erntete Simon einen bösen Seitenblick.
»Was macht dich so sicher, dass es ausgerechnet heute Nacht passieren wird?«, blieb er skeptisch.
»Was würdest du denn an deren Stelle machen? Denen brennt die heiße Ware förmlich unter den Nägeln und sie rechnen jeden Tag mit der Durchsuchung seitens der Polizei. Was liegt da näher, als baldmöglichst die Sachen aus dem Zentrum zu schaffen.«
Erneut verstand Juliane es, seine Zweifel zu zerstreuen. Simon brummte zustimmend. Eine Weile schwiegen sie, behielten den Parkplatz und den Seiteneingang im Blick. Dann beugte Juliane sich nach hinten, wollte die Thermoskanne nach vorne holen. Genau in diesem Moment bog ein dunkler Van von der Aalborgstraße in die Kieler Straße ein, um sich dort auf die Abbiegespur zum Zentrum einzuordnen.
»Da kommt jemand«, teilte der urplötzlich munter gewordene Simon der Psychologin mit.
Juliane drehte
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