Offene Rechnungen
dass man uns dort nicht erwartet.«
Er fand keine Zeit für weitere Proteste, da von der Holztreppe urplötzlich der Strahl einer Taschenlampe auf sie gerichtet wurde. Beide wirbelten herum, wollten den Plattenweg hinunter zur Fähre unter die Füße nehmen. Sie schafften keine drei Schritte, da versperrte ihnen das Licht einer weiteren Taschenlampe den Weg. Eine stämmige Männergestalt schälte sich aus der Dunkelheit und sofort erkannte Simon, dass ihre Flucht an dieser Stelle endgültig beendet war.
»Shit!«, entfuhr es Juliane.
KAPITEL 9
Esther saß mit ihrer Mutter vor dem Fernseher und versuchte, nicht ständig an das Treffen mit ihren Freunden zu denken. Es lief eine der beliebten Sendungen mit Heimatmelodien, was eine zusätzliche Herausforderung für Esther darstellte. Sie konnte mit den seichten Gesängen der Volksmusiker wenig anfangen, zudem reizte sie die Aufmachung der meisten weiblichen Künstler besonders zum Widerspruch.
»Findest du dieses reizende Kleid etwa auch wieder doof?«
Esthers Mutter kannte die Abneigung ihrer Tochter gegen die Kleidung der Frauen in diesen Shows, nutzte es jetzt gezielt als Gesprächsthema. Oft saßen die beiden Frauen lange schweigend vor dem Fernseher, obwohl die Mutter es liebte, die Sendungen zu kommentieren und sie gerne mit ihrer Tochter ausführlich besprochen hätte.
»Ja, Mama. Glaubst du im Ernst, eine junge Frau von Anfang zwanzig würde sich freiwillig in so ein Dirndl zwängen? Nie im Leben!«
Esther deutete erbost auf die blondierte Sängerin, die ihre knabenhafte Figur in einem Dirndl aus rosa Stoff zur Schau stellte. Mit gekonnten Drehbewegungen versetzte die Sängerin den Saum des Kleides in schwingende Bewegung.
»Ach Kind. Nicht alle Frauen tragen ständig Hosen und weite Jacken. Müsstest du auch bei deiner Arbeit nicht. Das ist doch nur ein Vorwand.«
Esther erkannte ihren Fehler. Sie hätte sich nicht so aufregen dürfen, denn dadurch fühlte ihre Mutter sich provoziert und griff in alter Manier an. Sie hätte es gerne gesehen, wenn ihre Tochter sich femininer kleiden würde.
»Wenn du mehr auf dein Äußeres achten würdest, wäre Clemens dir auch nicht weggelaufen. Du bist doch eine hübsche, junge Frau.«
Esther setzte bereits zur üblichen Verteidigungsrede an, als sich ihr Handy auf dem Tisch bemerkbar machte. Die Klingeltöne harmonierten natürlich überhaupt nicht mit der Gesangsdarbietung der blonden Sängerin aus dem Fernsehen. Der missbilligende Blick ihrer Mutter erwischte Esther noch im Verlassen des Wohnraumes.
»Esther Helmholtz.«
Sie lauschte einen Moment der Stimme ihres Kieler Kollegen, dann wurde sie sehr lebendig.
»Kein Problem, Frank. Ich bin in maximal zehn Minuten am Zentrum.«
Esther griff sich die Jacke und ihre Handtasche mit der Pistole, bevor sie den Kopf in die Tür zum Wohnzimmer steckte.
»Ich muss noch einmal los, Mama. Es gibt Fortschritte im Fall. Keine Ahnung, wie spät es wird. Gute Nacht.«
Esther sprudelte die Sätze nur so heraus. Ihre Mutter hatte verärgert den Kopf zur Tür umgedreht, kam jedoch zu keiner Erwiderung. Esther schlüpfte in die Stiefeletten und zog im Laufen die Jacke über. Sie brauchte keine zehn Minuten, bis sie den Volvo 440 neben dem Passat von Frank Reuter abstellte. Ein Streifenwagen mit zuckendem Blaulicht stand neben dem Seiteneingang des Geschäftshauses, genauso wie ein Einsatzfahrzeug des Sicherheitsdienstes. Esther musste sich nicht ausweisen, da die Streifenbeamten sie gut kannten.
»Der Hauptkommissar ist in der Kantine.«
Der uniformierte Kollege deutete auf die Hintertür der Cafeteria. Im gesamten unteren Bereich des Zentrums brannte Licht und als Esther in den Eingangsbereich kam, sah sie eine verdrießlich dreinschauende Ilona Specht am Empfangstresen lehnen. Offensichtlich alarmierte der Sicherheitsdienst bei ungewöhnlichen Vorfällen im Zentrum nicht nur die Polizei. Esther winkte ihr kurz zu, bevor sie mit steigender Neugier in die Cafeteria trat. Frank Reuter stand neben einem Tisch, an dem ein unbekannter Mann zusammen mit Monika Landau saß. In den Gesichtern der beiden konnte Esther eine merkwürdige Mischung aus Angst und Trotz lesen. Was hatte das zu bedeuten?
»Hallo, Esther. Tut mir leid, dass ich Sie so spät noch mal stören musste. Aber der Mitarbeiter von Scholz Security hat in der Inspektion angerufen, nachdem er heute Abend erneut ein brennendes Licht in der Cafeteria entdeckt hatte.«
Frank Reuter deutete auf den ebenfalls hell erleuchteten
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