Offene Rechnungen
reichte Esther eines davon.
»Prost!«
Esther erwiderte den Toast und trank vom eiskalten Getränk. Ihre Freundin hatte ein Gespür, welches der passende Moment für eine entspannende Erfrischung war. In den blauen Augen der Psychologin konnte Esther eine warme Besorgnis ablesen, was ihre spontane Entscheidung mehr als rechtfertigte. Zu Hause hätte ihre Mutter sie mit den üblichen Nörgeleien begrüßt und zermürbt.
»Kann es sein, dass du gerade noch über den Berichten zu Ariane Wiese gesessen hast?«
Kaum war die Frage ausgesprochen, erkannte Esther selbst, wie sehr sich ihr Vorgehen verändert hatte. Früher hätte so eine direkte Fragestellung vermieden und sich langsam über Smalltalk dem Thema genähert. Offenbar wirkte sich die Zusammenarbeit mit dem Kieler Hauptkommissar schon aus.
»Also, Frau Oberkommissarin!«, protestierte Juliane, nur um gleich fortzufahren: »Ich bin wohl selbst schuld. Mein Anruf hat dich auf diese Vermutung gebracht. Richtig?«
Juliane rang immer noch mit sich, ob sie mit diesen Gesprächen nicht schon zu weit ging. Als einzige Entschuldigung konnte ihr Wunsch gelten, damit den Mord an einem Freund aufklären zu helfen.
»Allerdings. Wir wissen doch beide, wie vorsichtig wir mit den Ergebnissen unserer Arbeit umgehen müssen. Ich werde genauso wenig dein Vertrauen missbrauchen, wie du es nicht mit meinem machen würdest. Wir plaudern nur ein wenig, ganz freundschaftlich. Einverstanden?«
Juliane nickte eifrig zu Esthers Ausführungen. Das war es, worauf sie bauen musste. Die Verschwiegenheit ihrer Freundin musste über deren beruflichem Ethos stehen.
»Einverstanden. Essen wir etwas zusammen?«
Esther hatte soweit überhaupt nicht geplant und spürte sofort wieder ein schlechtes Gewissen, angesichts der allein zu Hause sitzenden Mutter.
»Du machst dich viel zu abhängig von deiner Mutter, Esther. Sie kann ganz gut ohne dich über die Runden kommen, außer du erziehst sie zur Unselbstständigkeit.«
Juliane hatte instinktiv erahnt, welche Gedanken bei ihrer Freundin durch den Kopf gingen. Da sie Esther als oft sehr stur erlebt hatte, sprach sie ihre Bedenken in Hinblick auf deren Verhalten besonders deutlich aus.
Verblüfft steckte Esther diesen freundschaftlichen Rüffel ein. Von dieser Warte hatte sie es bisher nicht betrachten können, spürte aber die Richtigkeit der Unterstellung.
»Vermutlich hast du recht, Jule. Ich rufe nur kurz an, damit sie nicht auf mich wartet. Das geht doch hoffentlich in Ordnung?«
Esther hatte die Frage nur halb im Ernst gestellt und wunderte sich über die sehr ernsthafte Antwort.
»Mach nur, aber lass es nicht zur Gewohnheit werden. Du bist erwachsen und musst niemandem Rechenschaft über deine Zeit ablegen. Zudem bist du kein Ersatz für deinen toten Vater, Esther.«
Der zweite Satz traf Esther hart. Instinktiv rührte sich Protest in ihr, aber etwas hielt sie zurück. Während sie ihr Handy aus der Tasche holte und die Kurzwahlnummer ihrer Mutter drückte, dachte sie über den Satz weiter nach. Juliane hatte offensichtlich einen wunden Punkt in ihrer Beziehung zur Mutter getroffen.
»Hallo, Mama. Ich bin es. Warte bitte nicht auf mich. Jule und ich verbringen den Abend zusammen.«
Esthers Mutter zögerte mit einer Antwort.
»Ja, schon gut. Du musst ja auch ab und an mit Menschen in deinem Alter zu tun haben. Aber morgen bist du wieder zu Hause?«
Normalerweise hätte Esther dies sofort zugesagt. Jetzt erschien es ihr jedoch falsch und so legte sie sich nicht fest. Der Abschied der Mutter fiel entsprechend kühl aus, signalisierte ohne Worte ihre Verletztheit.
»Alles klar, Jule. Jetzt können wir uns etwas vom Pizzaservice kommen lassen.«
Die Psychologin zog fragend ihre Augenbrauen hoch.
»Was? Glaubst du etwa, ich würde mein Leben deinen Kochkünsten anvertrauen? Vergiss es! Wo ist die Karte?«
Mit übertriebener Geste reichte Juliane die Karte vom Lieferservice ihrer Freundin. Sie war nicht wirklich beleidigt, da Kochen ihr so gar keine Freude bereitete. Die ständigen Kochshows im Fernsehen verursachten bei ihr ein Gefühl von Anderssein, was ihr durchaus zusagte. Sollte doch jedermann sich neuerdings zum Sternekoch berufen fühlen, ihr blieb das Zubereiten von Speisen eine reine, oft nervende Notwendigkeit.
»Wenn du meinst?«, spielte sie die Beleidigte.
»Meine ich. Also, was darf ich dir bestellen? Betrachte dich als eingeladen«, zeigte Esther sich unbeeindruckt.
Sofort wurde die Psychologin munter und stellte den Belag für ihre
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