Oft
miterleben durfte, und dass du gestern hinter mir gestanden hast. Es bedeutet mir sehr viel.«
Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, da hielt sie ihn zurück.
»Warte«, bat sie ihn, »ich möchte dir etwas zeigen.«
Überrascht blieb er stehen, beobachtete stirnrunzelnd, wie sie zum Schrank ging und ein paar Fotoalben herausnahm. Sie setzte sich damit auf die Couch und klopfte mit der Hand einladend neben sich.
»Komm her«, forderte sie ihn leise auf.
Zögernd humpelte er auf sie zu, setzte sich zu ihr.
Sie schlug eines der Bücher auf, und er schluckte, als sein Blick auf die Fotos fiel. Es waren Bilder von Timmy, die ersten, die direkt nach seiner Geburt aufgenommen worden waren.
Langsam blätterte Lauren durch die Seiten, erzählte ihm dabei die entsprechenden Geschichten zu den jeweiligen Aufnahmen, und versuchte so, ihm ein bisschen von den Dingen zu vermitteln, die er durch ihre Schuld verpasst hatte.
Timmys Geburtstage, der erste Tag im Kindergarten, seine Einschulung. Timmy auf dem Rücken eines Ponys, Timmy beim Schwimmen im See, Timmy mit seinen Onkeln und im Arm seiner Mutter – alles war festgehalten worden, und Ryan sog die Fotos förmlich in sich auf.
Unbewusst war er näher an Lauren herangerutscht, hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, und so saßen sie dicht aneinandergeschmiegt und holten einen Teil der verlorenen Zeit wieder auf.
Als sie beim letzten Bild angelangt waren, drehte Lauren den Kopf und schaute ihn an, sah, wie aufgewühlt er war.
»Ryan«, flüsterte sie und legte ihm sanft eine Hand an die Wange, »es tut mir unendlich leid, bitte verzeih mir.«
Ihre Berührung traf ihn bis ins Mark, er schloss die Augen und genoss die Wärme, die in ihm aufstieg. Behutsam streichelte sie sein Gesicht, strich liebevoll an seinem stoppeligen Kinn entlang und über seinen Mund.
Mit einem kleinen Seufzen hielt er ihre Hand fest, küsste ihre Finger, fühlte, wie sie zärtlich mit den Fingerspitzen an seinen Lippen entlangfuhr. Er ließ seine andere Hand in ihren Nacken gleiten, fasste in ihr Haar und zog ihren Kopf dichter zu sich. Langsam senkte er seinen Mund auf den ihren, und die Süße und Weichheit ihrer Lippen, die ihm einladend entgegenkamen, trafen ihn wie ein Blitzschlag. Augenblicklich stiegen all die verdrängten Gefühle und Sehnsüchte in ihm auf, und plötzlich war es so, als wären sie nie getrennt gewesen. Vergessen waren all die einsamen Jahre, all der Schmerz, wie damals hielt er sie in seinen Armen und wollte nur noch eins mit ihr sein.
Er vertiefte seinen Kuss, spürte, wie sie die Liebkosungen seiner Zunge leidenschaftlich erwiderte, und riss sie mit einem leisen Aufstöhnen an sich, sodass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Instinktiv stützte sie sich auf seinem Bein ab, zog dann jedoch sofort die Hand weg, aus Angst, ihm wehzutun.
Im gleichen Moment stieß er sie abrupt von sich und sprang auf.
Irritiert schaute sie ihn an. »Was ist los, was hast du?«
»Warum tust du das?«, stieß er hervor.
»Warum tue ich was?«, fragte sie verständnislos, da fuhr er schon fort: »Warum küsst du mich, obwohl ich dir doch so zuwider bin? Ist es Mitleid? Oder denkst du, dass du den Krüppel mit ein paar Zärtlichkeiten einwickeln und danach wegschicken kannst? Wie weit würdest du denn deine Abneigung überwinden, damit ich wieder aus deinem Leben verschwinde?«
»Ryan …«, flüsterte sie entsetzt.
»Vergiss es Lauren«, fiel er ihr beißend ins Wort, »so leicht wirst du mich nicht los. Sollte ich jemals gehen, dann nicht ohne meinen Sohn, also verschwende deine Zeit nicht damit, gegen deinen Ekel anzukämpfen.«
Voller Zorn stürmte Ryan aus Laurens Wohnung und die Treppe hinauf, ließ sich in der Mansarde auf sein Bett fallen und boxte wütend mit der Faust in die Kissen.
Er war wütend auf sich, dass er seine Gefühle nicht besser unter Kontrolle gehabt hatte, und sich genau wie damals von Laurens Zärtlichkeiten hatte täuschen lassen.
Er war wütend auf Lauren, dass sie es so hervorragend verstanden hatte, einen schwachen Moment von ihm auszunutzen, um ihn zu manipulieren und sich dabei nicht einmal die Mühe machte, ihren Abscheu zu verbergen.
Er war wütend auf diesen verdammten Unfall, der ihn zu einem hilflosen, abstoßenden Krüppel gemacht hatte, der ihn so verwundbar und verletzlich gemacht hatte.
Für einen Augenblick hatte er wirklich geglaubt, Lauren würde etwas für ihn empfinden, sie würde ihn vielleicht doch noch lieben.
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