Ohne dich kein Sommer - Roman
Sie brach nicht zusammen, nicht, wenn sie gebraucht wurde. Nein, meine Mutter war jeder Herausforderung gewachsen. Ich wünschte, ich hätte dieses Gen von ihr geerbt. Denn ich fühlte mich völlig hilflos. Ich wusste nichts mit mir anzufangen.
Ich überlegte, ob ich Conrad anrufen sollte. Ein paarmal hab ich sogar seine Nummer gewählt, aber dann hab ich’s doch nicht geschafft. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fürchtete, das Falsche zu sagen, alles nur noch schlimmer zu machen. Dann überlegte ich, Jeremiah anzurufen. Aber ich konnte es nicht, ich hatte Angst. In dem Moment, in dem ich anrief, in dem ich es laut aussprach, in dem Moment würde es wahr sein. Dann wäre Susannah tatsächlich tot.
Auf der Fahrt nach Norden redeten wir kaum. Stevens einziger Anzug, den er bisher nur zu Schulbällen getragen hatte, hing hinten im Wagen in einer Plastikhülle. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, mein Kleid auch aufzuhängen. »Was sagen wir denn zu ihnen?«, fragte ich Steven schließlich.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Die einzige Beerdigung, auf der ich je gewesen bin, war die von Tante Shirle, und die war schon ganz alt.« Ich erinnerte mich nicht daran, damals war ich noch zu klein.
»Und wo schlafen wir heute Nacht? In Susannahs Haus?«
»Weiß nicht.«
»Was glaubst du, wie Mr. Fisher damit umgeht?« Mir Conrad oder Jeremiah vorzustellen, das brachte ich nicht fertig, noch nicht.
»Whiskey«, war Stevens Antwort.
Danach stellte ich keine Fragen mehr.
An einer Tankstelle dreißig Meilen vor dem Ziel zogen wir uns um. Als ich sah, wie ordentlich und faltenlos Stevens Anzug aussah, bedauerte ich es, dass ich mein Kleid nicht ebenfalls aufgehängt hatte. Im Auto habe ich dann versucht, es mit den Händen glatt zu streichen, aber es nützte nichts. Meine Mutter hatte mich vor dem Material gewarnt, ich hätte auf sie hören sollen. Außerdem hätte ich es vor dem Packen mal anprobieren sollen. Ich hatte es zuletzt bei einem Empfang an der Universität meiner Mutter getragen, vor drei Jahren, inzwischen war es mir zu klein.
Wir kamen früh an, so früh, dass meine Mutter noch immer vielbeschäftigt war. Sie arrangierte Blumen, redete mit dem Inhaber des Beerdigungsinstituts. Sobald sie mich sah, runzelte sie die Stirn. »Du hättest das Kleid wenigstens bügeln können, Belly«, sagte sie.
Ich biss mir auf die Unterlippe, um nichts zu sagen, was ich später mit Sicherheit bereuen würde. »Ich hatte keine Zeit mehr«, sagte ich, aber das stimmte nicht. Ich hätte reichlich Zeit gehabt. Ich zog an meinem Rock, damit das Kleid nicht ganz so kurz aussah.
Sie nickte knapp. »Schaut mal, wo die Jungs sind, ja? Und Belly – sprich mit Conrad.«
Steven und ich tauschten einen Blick. Was sollte ich sagen? Seit dem Abschlussball war ein Monat vergangen, seitdem hatten wir kein Wort miteinander gewechselt.
Wir fanden die beiden in einem Nebenraum, der mit einigen Bänken wie eine Kapelle hergerichtet war. Kleenex-Schachteln waren dezent in lackierten Dosen verborgen. Jeremiah hielt den Kopf gesenkt, so als betete er, etwas, was ich von ihm nicht kannte. Conrad saß kerzengerade, mit zurückgenommenen Schultern, und starrte ins Leere. »Hey«, sagte Steven und räusperte sich. Er ging zu den beiden und umarmte sie nach Jungenart.
Mir ging durch den Kopf, dass ich Jeremiah noch nie in einem Anzug gesehen hatte. Er schien ihm etwas eng und unbequem zu sein, jedenfalls zupfte er ständig im Nacken an seinem Kragen. Aber seine Schuhe sahen neu aus. Ich fragte mich, ob meine Mutter sie mit ihm zusammen ausgesucht hatte.
Nach Steven ging ich schnell zu Jeremiah hinüber und umarmte ihn, so fest ich konnte. Er machte sich steif in meinen Armen, und als er sagte: »Danke, dass ihr gekommen seid«, klang seine Stimme ungewohnt förmlich.
Einen flüchtigen Moment lang dachte ich, er sei vielleicht sauer auf mich, doch ich schob den Gedanken so schnell weg, wie er aufgetaucht war. Ich schämte mich, dass ich so etwas auch nur denken konnte. Dies war Susannahs Beisetzung, wie konnte ich da an mich denken?
Ich strich Jeremiah unbeholfen über den Rücken, meine Hand bewegte sich in kleinen Kreisen. Seine Augen waren auffällig blau, wie immer, wenn er geweint hatte.
»Es tut mir so leid«, sagte ich, bereute es aber sofort wieder, weil es so nichtssagend klang, so sinnlos. Es drückte nicht aus, was ich wirklich fühlte.
Dann sah ich zu Conrad hinüber. Er hatte sich schon wieder gesetzt, mit steifem Rücken,
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