Ohne dich kein Sommer - Roman
und wäre nun endlich aufgewacht. Ich hatte ein klares Ziel vor Augen.
An jenem Tag, als wir uns zuletzt begegnet waren, hatte ich schreckliche Dinge gesagt. Unverzeihliche Dinge. Vielleicht, wenn ich ihm jetzt helfen konnte, selbst wenn mein Beitrag noch so minimal wäre, vielleicht könnte ich auf die Art Scherben wieder kitten.
Und trotzdem – sosehr mir der Gedanke Angst machte, dass Conrad verschwunden war, und so sehnlich ich mir wünschte, mich mit ihm auszusöhnen, so sehr schreckte mich die Vorstellung, erneut in seiner Nähe zu sein. Niemand auf der Welt hatte dieselbe Wirkung auf mich wie Conrad Fisher.
Kaum hatten Jeremiah und ich aufgelegt, raste ich durchs Zimmer, warf Unterwäsche und T-Shirts in meine Reisetasche. Wie lange würden wir wohl brauchen, um ihn zu finden? War alles in Ordnung mit ihm? Ich hätte es doch gewusst, wenn etwas mit ihm nicht stimmte, oder? Ich packte weiter – Zahnbürste, Kamm, Kontaktlinsenflüssigkeit.
Meine Mutter stand in der Küche und bügelte. Sie starrte ins Leere, die Stirn voller Falten. »Mom?«, sagte ich.
Erschrocken sah sie mich an. »Was? Was ist los?«
Meine Antwort hatte ich mir gut überlegt. »Taylor hatte so eine Art Nervenzusammenbruch, weil sie und Davis mal wieder Schluss gemacht haben. Ich fahr zu ihr und bleib über Nacht, vielleicht auch morgen, je nachdem, wie es ihr geht.«
Ich hielt die Luft an, wartete, was meine Mutter sagen würde. Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, wenn man ihr irgendwas weismachen wollte. Darin war sie besser als alle, die ich sonst kannte. Das ist bei ihr schon mehr als mütterliche Intuition, eher eine Art inneres GPS -System, das sie zielsicher zu jedem Schwindel führt. Aber kein Alarm ging los, keine Glocken läuteten, keine Trillerpfeifen schrillten. Ihr Gesicht blieb absolut leer.
»Ist gut«, sagte sie und wandte sich wieder ihrer Bügelwäsche zu.
Dann sagte sie noch: »Sieh zu, dass du morgen Abend zu Hause bist. Es gibt Heilbutt.« Sie sprühte Chinos mit Stärke ein. Ich hatte freie Bahn. Ich hätte erleichtert sein können, aber ich war’s nicht. Nicht wirklich.
»Ich versuch’s.«
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihr die Wahrheit sagen sollte. Wenn irgendwer verstehen würde, worum es ging, dann sie. Sie würde helfen wollen. Sie liebte die Jungs, alle beide. Sie war damals mit Conrad zur Notaufnahme gefahren, als er sich beim Skateboardfahren den Arm gebrochen hatte. Susannah hatte derart gezittert, dass sie nicht fahren konnte. Meine Mutter warf so schnell nichts um, sie war der Fels in der Brandung. Sie wusste immer, was zu tun war.
Wenigstens war es immer so gewesen. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Als bei Susannah der Krebs wiederkam, schaltete meine Mutter auf Autopilot. Sie machte alles, was gemacht werden musste, doch oft schien sie gar nicht richtig anwesend zu sein. Neulich kam ich nach unten und sah, wie sie mit roten Augen den Flur wischte. Da bekam ich es mit der Angst zu tun. Meine Mutter weinte sonst nie. Sie so zu sehen, nicht als meine Mutter, sondern als ganz normalen Menschen, brachte mein Vertrauen in sie fast ins Wanken.
Jetzt stellte sie ihr Bügeleisen ab, nahm ihr Portemonnaie vom Tresen und zog einen Schein heraus. »Kauf unterwegs eine große Packung Eis für Taylor, als kleinen Gruß von mir«, sagte sie.
»Danke, Mom«, sagte ich und stopfte den Zwanziger in die Tasche. Er würde mir später gute Dienste leisten, wenn ich tanken musste.
»Viel Spaß dann«, sagte sie, und schon war sie mit ihren Gedanken wieder weit weg. Bügelte noch einmal dieselbe Hose, die sie eben schon gebügelt hatte.
Als ich losfuhr, konnte ich das Gefühl der Erleichterung endlich zulassen. Zur Abwechslung einmal keine stumme, traurige Mutter. Heute nicht. Ich hasste es, sie allein zu lassen, aber ich hasste es auch, in ihrer Nähe zu sein, denn sie erinnerte mich ständig an das, was ich am allermeisten zu vergessen suchte. Susannah war tot, sie würde nicht zurückkommen, und keiner von uns würde je wieder so sein wie vorher.
7
Taylors Haustür war so gut wie nie verschlossen. Das Treppenhaus mit dem langen Geländer und den polierten Holzstufen war mir vertraut wie unser eigenes.
Ich klingelte also gar nicht erst, sondern ging direkt nach oben.
Taylor lag auf dem Bauch und blätterte irgendwelche Klatschzeitschriften durch. Als sie mich sah, setzte sie sich sofort auf und fragte: »Bist du eine Masochistin, oder was?«
Ich ließ meine Reisetasche fallen
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