Ohne Ende Leben - Roman
sterben.«
»Wie
sollten
Sie denn sterben?«
Ihre Augen leuchten verträumt. »In einem Haus am Meer, in einem Schlafzimmer im Obergeschoss. Es ist ein Spätfrühlingstag und durch das geöffnete Fenster strömt der Duft der Lilien aus dem Tal herein. Und vor dem Haus ist ein Garten und der ist mit Lampions aus Papier geschmückt, und die Kinder – die Kinder jagen Glühwürmchen, und ihre Eltern lachen und unterhalten sich, als ob sie alle Zeit der Welt haben. Ich will in einem Haus am Meer sterben. Und ich will aus diesem Leben gehn, als ob das Leben nichts weiter ist als ein Pullover, der mit den Jahren ausgeleiert ist und abgenutzt – einen, den man nicht mehrbraucht. So soll es sein. Aber nicht hier. Niemals hier.« Sie schaut mich direkt an. »Ich glaube, du solltest nicht sterben, bevor du nicht bereit bist. Bevor du nicht den letzten Lebenstropfen aus dir herausgepresst hast.«
Die Dame geht vielleicht auf die neunzig zu. Ich würde sagen, sie hat ganz schön viele Tropfen aus sich herausgepresst. Ich möchte sie dafür anbrüllen, dass sie so lange Zeit hatte. »Tja, vermutlich liegt das nicht in unserer Hand«, sage ich bitter.
»Blödsinn! Das sagen sie immer und deshalb willst du ohne zu kämpfen aufgeben.« Sie kommt mir so nahe, dass ich ihren Alte-Leute-Geruch in der Nase habe – muffig und altmütterlich, wie ein Zimmer, das niemand mehr betritt. »Ich hab sie gesehen, da draußen, sie haben auf dem Rasen gebrannt und waren so groß wie Häuser und so hell, so hell.«
Meine Nackenhaare stehen senkrecht.
»Sie haben diese durchgedrehten Feuerriesen gesehen?«
Sie nickt, mit ängstlichen, großen Augen.
»Was sind sie?«, flüstere ich.
»Chaos. Zerstörung. Das Ende aller Hoffnung. Oh ja, wir leben in fürchterlichen Zeiten. Ich muss hier weg!«
Im Gang erscheint ein Krankenpfleger. »Mrs Morae, kommen Sie schon. Sie sollten nicht hier sein.«
»Ich geh hin, wohin ich will!«, blafft sie zurück.
»Also, Mrs M, machen Sie keine Fisimatenten.« Der Pfleger kommt näher, wie ein großer Schatten, und für einen Augenblick sehe ich in diesem Schatten die Konturen von etwas Schrecklichem – dann verändert es sich. Da ist nichts weiter als ein dunkler Fleck an der farblosen Wand.
»Sehen Sie, wir wollen doch nur Ihr Bestes. Zurück ins Bett, Mrs M«, sagt der Pfleger und fasst ihren Arm.
»Ist schon gut«, sag ich ihm, »sie kann bleiben, wirklich!«
»Sag ihnen, dass sie einen Fehler machen«, zischelt sie, während sie hustet und der Pfleger sie behutsam davonführt. »Ein Haus am Meer. Sag’s ihnen!«
Ich bin eingeschlafen, aber meine Träume sind voller schlimmer Ereignisse – Feuer verschlingen die Welt. Über uns tut sich ein schwarzes Loch auf und zieht alles in sich hinein, als ob wir niemals existiert hätten. Kranke Kühe stürzen auf den Feldern zu Boden wie gasvergiftete Soldaten in einem Krieg vor langer Zeit. Der Engel im matten Brustpanzer klopft mit den Händen gegen eine Fensterscheibe, während Schnee schon seine Wimpern und sein Haar bedeckt. Mit pochendem Herzen wache ich auf, weiß nicht genau, wo ich bin oder was passiert ist, ob ich etwa die Unterhaltung mit der alten Lady nur geträumt habe.
Ein Haus am Meer. Dort wäre ich jetzt gerne. Und ich wünschte, ich müsste nur einen Knopf drücken, um hier rauszukommen und all das Zeugs hinter mir zu lassen.
Tag Dreizehn
Glory war zwei Tage weg. Heute ist sie wieder da, in ihrer rosafarbenen Schwesterntracht, die gut zur dunklen Hautfarbe passt. Ich fühle mich nicht so großartig. Manchmal denke ich, ich sehe den Punkerengel in der Ecke sitzen. Er liest ein Comicheft. Auf dem Cover ist der vom Pech verfolgte Kojote, den gleich ein Amboss treffen wird. Als ich das Mom erzählte, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und seither verliere ich kein Wort mehr über seltsame Engelserscheinungen.
»Zeit für deine Medizin«, ruft Glory ohne jedes Trara.
Ich spüle die Medikamente runter, auch wenn sie schwer zu schlucken sind. Mein Körper scheint von Mal zu Mal schwächer zu werden.
»Okay«, sagt Glory, nachdem meine Blutdruckwerte für die Nachwelt aufgezeichnet sind, »brauchst du noch was?«
»Nein«, sage ich und beobachte sie, wie sie ihren Rollwagen zur Tür schiebt. »Doch.«
Glory hält an und blickt zurück. Da gibt’s kein »Was brauchst du denn, mein Herzchen?« oder »Oh, mein armes, tapferes Häschen«. Nö. Sie steht nur da und wartet. Und ich weiß, sie ist sogar ein bisschen verärgert.
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