Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
ohne das kleinste bisschen Neugier stellte sie ganz korrekt die richtigen Fragen. Sie hatte keine Freude im Leben. Manchmal tat sie mir leid. Aber meistens hätte ich sie am liebsten an den Schultern gepackt, sie geschüttelt und geschrien:
    »Mach deine beschissenen Augen auf!«

M EINE MUM FLUCHTE SELTEN. Wenn ihr ein Teller herunterfiel oder sie sich schnitt, rutschte ihr schon mal ein Fluch heraus, aber Schimpfwörter waren für sie kein Mittel, ihre Empörung zu zeigen. Sie war stolz auf ihr Englisch, das sie sich größtenteils selbst beigebracht hatte, unter anderem mit zahllosen Romanen aus der Bücherei. In diesem Fall wirkte ihr Fluchen wie ein kleiner Wutausbruch, ein Aufblitzen von Gefühlen in ihrer wohlüberlegten Erzählung. Um das wettzumachen, verschanzte sie sich hastig hinter Sätzen, die nach Juristensprache klangen, als wollte sie damit jeden Verdacht abwehren, sie sei wahnsinnig.
    Ich glaube nicht und habe auch keine Beweise dafür, dass Elise unmittelbar in die begangenen Verbrechen verwickelt war. Aber ich behaupte, dass sie von ihnen wusste. Mit der Arbeit lenkte sie sich ab, sie hielt ihren Körper und ihren Geist so beschäftigt, dass sie nicht mehr die Kraft hatte, die Puzzlestücke zusammenzufügen. Stell dir jemanden vor, der im Meer schwimmt und nicht wagt, den Blick vom sonnigen Horizont zu lösen, weil er weiß, dass unter ihm ein dunkler, tiefer Abgrund lauert und kalte Wirbel seine Knöchel umspielen. Sie hatte sich entschieden, mit einer Lüge zu leben, sie stellte sich bewusst blind. Ich bin nicht so. Ich werde nicht wie sie enden – ich werde alles aufdecken, auch wenn sie es nicht kann.
    Auf dem Fest unterhielt ich mich kaum mit Elise. Manchmal sah sie zu mir herüber, aber sie unternahm keine Anstalten, mich ihren Freundinnen vorzustellen. Ich musste mich entweder gegen diese Behandlung wehren oder mich damit abfinden, dass meine Einführung in die Gemeinde ein Fehlschlag war. Ich beschloss zu kämpfen. Ich wollte eine packende Geschichte erzählen und suchte mir die Begegnung mit dem Elch aus. Eine geschickte Wahl, dachte ich, weil sie in dieser Gegend passiert war und ich sie als Zeichen gedeutet hatte, dass unsere Zeit auf dem Hof unter einem guten Stern stand, und vielleicht würden die anderen sie ähnlich einschätzen. Ich testete die Geschichte bei einem Grüppchen, zu dem auch der leutselige Bürgermeister gehörte. Die Leute fanden sie erstaunlich. Weil ich mich über die Reaktion freute, überlegte ich, welche Gruppe ich als Nächstes ansprechen konnte. Bevor ich mich entschieden hatte, kam Håkan auf mich zu und bat, ich solle die Geschichte für alle wiederholen. Ein Spion, wahrscheinlich der verlogene Bürgermeister, musste erzählt haben, dass ich mit der Geschichte mein Ansehen aufpoliert hatte. Håkan bat mit einer Geste um Ruhe und überließ mir die Bühne. Öffentliche Reden sind nichts für mich. Bei zu vielen Leuten werde ich schüchtern. Aber es stand eine Menge auf dem Spiel. Wenn ich einen guten Auftritt hinlegte, würden die Leute meinen plumpen Einstand vergessen. Mit dieser Geschichte konnte ich beeinflussen, welches Bild sie von mir behielten. Ich atmete tief durch. Dann beschrieb ich die Situation. Kann sein, dass ich zu aufgeregt war, ein paar Einzelheiten hätte ich weglassen können, zum Beispiel, dass ich nackt war, weil ich niemandem Bilder in den Kopf setzen wollte, und auch, dass ich erst einen Spanner zwischen den Bäumen vermutet hatte, wodurch ich paranoid wirkte. Im Großen und Ganzen war mein Publikum gefesselt, niemand gähnte oder sah auf sein Handy. Aber statt zu klatschen, erklärte Håkan danach, er habe sein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht und noch nie einen Elch im Fluss gesehen. Ich müsse mich getäuscht haben. Dieser Mann hatte mich nur aus einem einzigen Grund ermutigt, meine Geschichte zu erzählen: damit er mir vor allen widersprechen konnte. Ich weiß nicht, wie wahrscheinlich es ist, dass man einen Elch im Fluss sieht. Vielleicht passiert das nur alle zehn Jahre, vielleicht alle hundert. Ich weiß nur eines – mir ist es passiert.
    Als Håkan sagte, er würde mir diese Geschichte nicht abnehmen, schlugen sich die Gäste auf seine Seite. Der Bürgermeister, der die Geschichte ein paar Minuten vorher noch ganz erstaunlich gefunden hatte, pflichtete ihm jetzt bei, dass Elche nicht so weit kommen würden. Sie stellten Theorien auf, warum ich mich geirrt hätte, es sei zu dunkel gewesen, die Schatten hätten mir einen

Weitere Kostenlose Bücher