Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
Insel. Doch ich musste sie von Nahem sehen, nicht aus der Ferne. Ich ging zu der Baumgruppe am Ende der Insel, dem breiten Teil der Träne. Zwischen den Bäumen sah ich den dunklen Umriss von etwas Eckigem, von einem künstlichen Unterschlupf, einer Baracke weit weg von den Blicken der Leute, gebaut aus Holz, nicht aus Ästen aus dem Wald, sondern aus zusammengenagelten Brettern. Das Dach schien wasserdicht zu sein. Das hier hatten Männer gebaut, keine Kinder. Als ich herumging, sah ich, dass es keine Tür hatte, nur eine Aussparung mit einem zerschlissenen Vorhang. Ich zog den Vorhang zur Seite und entdeckte dahinter einen Vorleger, einen geöffneten Schlafsack, der wie eine Decke ausgebreitet lag, und eine Petroleumlampe mit verrußtem Glas. Die Abmessungen waren eindeutig – die Baracke war nicht hoch genug, um darin zu stehen, aber breit genug, um sich hinzulegen. Es roch unverkennbar nach Sex. Im Schlamm steckten Zigarettenstummel. Einige waren mit Filter, andere selbst gerollt. Ich hob einen auf und roch Gras. Mit einem Zweig fuhr ich durch die Asche von tausend Feuern und fand am Rand die geschmolzenen Überreste eines Kondoms – ein widerlicher Streifen Plastikrotz.
D IESER ORT KLANG ERSCHRECKEND , und ich spürte, wie meine Mum schreckliche Anschuldigungen umkreiste, wie sie andeutete, ohne direkt auszusprechen, woran sie dachte. Aber es war nicht meine Aufgabe, etwas anzunehmen oder Schlussfolgerungen zu ziehen:
»Was, glaubst du, ist auf dieser Insel passiert?«
Meine Mum stand auf und öffnete Küchenschränke, bis sie den Zucker fand. Sie griff in die Dose, nahm eine Handvoll heraus und ließ den Zucker vorsichtig auf den Tisch rieseln, um ihn dann vor mir zu verteilen. Mit der Fingerspitze malte sie den Umriss einer Träne in die feinen weißen Kristalle.
Weißt du, wovon die meisten Leute träumen, wenn es um Sex geht? Von einem Ort für sie allein, an dem sie alles machen können und niemand erfährt je davon. Ohne beurteilt zu werden, ohne Verpflichtung, ohne Scham oder Missbilligung oder Konsequenzen. Wenn du reich bist, ist es vielleicht eine Jacht weit draußen auf dem Meer. Wenn du arm bist, vielleicht ein Keller, in dem du deine Schmuddelheftchen aufbewahrst. Und wenn du auf dem Land lebst, ist es eine Insel im Wald. Ich rede vom Ficken, nicht davon, sich zu lieben. Solche Ficks will jeder geheim halten.
M EINE HAND SCHOSS VOR und wischte die Zuckerinsel weg. Zu spät begriff ich, wie verräterisch das war. Diese heftige, impulsive Reaktion verriet meine Wut. Meine Mum wich überrascht zurück und starrte mich an. Sie hielt meine Geste bestimmt für ein verächtliches Niederschmettern ihrer Theorie. Dabei war sie eher eine klägliche Bestätigung, dass meine Mum recht hatte. Ich hatte mir meine eigene Version dieser Insel geschaffen. Meine Mum saß mittendrin – hier in dieser Wohnung. Ich hatte mich oft gefragt, ob ich meine sexuelle Orientierung vor meinen Eltern geheim halten und trotzdem meine Beziehung mit Mark weiterführen konnte. Er hätte sich nie darauf eingelassen, deshalb hatte ich den Gedanken nicht ausgesprochen. Wäre es möglich gewesen, hätte ich vielleicht den Rest meines Lebens auf meiner eigenen Insel gehockt und mich immer weiter von meinen Eltern entfernt. Während mir der Zucker an den Fingerspitzen klebte, entschuldigte ich mich:
»Es tut mir leid. Es ist nicht leicht, das zu hören. Das über Dad, meine ich.«
Das konnte meine Mum noch nicht beruhigen, sie spürte in meinen Gedanken etwas, das sie nicht recht deuten konnte. Voll Sorge, was mich im weiteren Verlauf ihrer Geschichte noch erwartete, fragte ich:
»Und du glaubst, dass Dad und Håkan zu dieser Insel gefahren sind?«
»Ich weiß es.«
Ich zögerte und versuchte, mich gegen die Antwort zu wappnen:
»Was haben sie da gemacht?«
Es geht nicht um das Was. Es geht um das Wer – wer wurde noch auf die Insel gebracht? Wir wissen eindeutig, dass sie nicht geangelt haben. Ich habe die ganze Insel abgesucht, konnte jedoch keine Spuren von ihnen finden. Es fiel mir schwer, ohne Antwort wegzufahren, aber als ich auf die Uhr sah, wurde mir klar, in welcher Gefahr ich schwebte. In wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen.
Zum Glück war ich flussabwärts deutlich schneller unterwegs. Trotzdem war es schon Morgen. Es wurde immer heller. Håkan und Elise würden wach sein. Sie standen immer bei Sonnenaufgang auf. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht am Ufer waren. Als ich an Håkans Steg vorbeifuhr, war
Weitere Kostenlose Bücher