Ohnmachtspiele
auf jeden Fall entbehrlich; außerdem wollte er ja nicht auf Urlaub gehen; er wollte einer wichtigen Spur folgen. Er holte seinen Laptop aus dem Wohnzimmer, stellte ihn auf den Küchentisch und fuhr ihn hoch. Unter den gegebenen Umständen war es ohnehin besser, wenn er weg aus Wien war. Dafür hätten sie bestimmt Verständnis. Deswegen hatten sie doch auch Bruckner die Leitung des Falls übertragen. Weil er selbst noch nicht belastbar genug war; und jetzt auch noch das versuchte Attentat.
Kauend und schlürfend öffnete er den Webbrowser und suchte eine Zugverbindung nach Murau. Sechs Uhr dreiundzwanzig mit dem Eurocity bis Unzmarkt. Umsteigen und mit dem Regionalexpress bis Murau, Ankunft neun Uhr achtundfünfzig. Falls er im Zug einschlief, wäre er eben am Nachmittag in Venedig – eine Vorstellung, die ihm durchaus gefiel. Er duschte und zog sich an. Nahm eine Umhängetasche aus dem Schlafzimmerschrank, packte seine Toilettensachen, frische Kleidung, seinen Laptop sowie zwei Reservemagazine ein. Dann schlüpfte er in seine Schuhe, nahm seinen Mantel vom Haken und verließ die Wohnung.
„Bringen Sie mich zum Südbahnhof“, forderte er die verdutzten Beamten auf, „und dann können Sie sich schlafen legen.“
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Wusste er überhaupt noch, was er tat? Wenigstens Bergmann hätte er Bescheid geben können! Doch wenn er seinen Assistenten mitten in der Nacht aus dem Schlaf holte, um ihm mitzuteilen, dass er sich allein auf den Weg in die Steiermark machte … der würde ihn für unzurechnungsfähig erklären und ihn von der Sondereinheit aus dem Zug holen lassen. Er sah sich im Abteil um: drei Männer, zwei Frauen, wahrscheinlich Pendler; die jüngste der Frauen schlug ein Taschenbuch auf, der Mann im Anzug legte sich seinen Laptop auf den Schoß, die anderen lehnten sich an die aufgehängten Jacken und drehten ihre Köpfe in eine halbwegs angenehme Schlafposition. Normalerweise fuhr Schäfer erste Klasse und bemühte sich um einen Platz ohne Sitznachbarn – doch diesmal beruhigte ihn die Anwesenheit von unbekannten Menschen. Die Männer sah er sich nun genauer an, bemühte sich, Blickkontakt herzustellen. Doch wozu das Misstrauen? Außer den beiden Beamten wusste niemand, dass er am Südbahnhof einen Zug bestiegen hatte. Außerdem hatte er genau darauf geachtet, ob ihm auf dem Weg zum Bahnsteig jemand gefolgt war. Nachdem er eine kleine Flasche Pfirsichsaft getrunken und eine Topfengolatsche aus der Bahnhofsbäckerei gegessen hatte, lehnte auch er den Kopf an seinen Mantel und machte die Augen zu. Das Klassenfoto aus dem Jahrbuch kam ihm wieder in den Sinn: Wie könnte der Junge jetzt aussehen? Kannte Schäfer jemanden, der ihm entfernt ähnlich sah? Gesichter von Personen, die er in den letzten Monaten getroffen hatte, liefen wie eine Filmspur hinter seinen geschlossenen Lidern ab. Er öffnete die Augen einen Spalt, um zu sehen, was seine Sitznachbarn taten. Dann legte er seine rechte Hand unters Jackett und war bald eingeschlafen.
Wurde er in den letzten Tagen eigentlich nur mehr vom Telefon oder der Türklingel geweckt? Er griff in seine Innentasche, murmelte eine Entschuldigung und verließ das Abteil.
„Herr Holzleitner … Sie sind schon auf …“
„Um die Zeit immer … was ist denn das für ein Lärm bei Ihnen?!“
„Ich bin im Zug.“
„Ach so … hören Sie: der Florian … ich habe damals in der Rosenberggasse gewohnt, oben bei den Steinhofgründen … da bin ich meistens durch den Wald hinaufspaziert, beim Dehnepark, wo der Teich ist … kennen Sie den …?“
„Glaube schon … da haben wir einmal einen herausgefischt …“
„Ja … und da habe ich ihn ein paarmal gesehen mit einem anderen … ich bin mir nicht ganz sicher, aber das wird wohl der Maurer gewesen sein …“
„Maurer, wie noch?“
„Karl, Karl Maurer … eher ein Ruhiger …“
„Und was ist …“, wollte Schäfer mehr über den Jungen wissen, als die Verbindung abbrach. Er blieb ein paar Minuten auf dem Gang stehen und schaute auf das Display. Karl Maurer … Bergmann musste den Mann sofort ausfindig machen. Schäfer ging durch zwei Waggons, bis er den Schaffner gefunden hatte, und fragte ihn nach dem Zugtelefon.
„Seit jeder ein Handy hat, gibt’s das nicht mehr“, sagte dieser teilnahmslos.
„Aber mein Handy funktioniert hier nicht“, entgegnete Schäfer.
„Ja … weil auf der Strecke oft kein Empfang ist.“
Schäfer schüttelte den Kopf, ließ den Schaffner stehen und ging zurück in sein
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