Ohnmachtspiele
mussten das Regelwerk durchschauen, einen Psychiater brauchten sie, der ihnen weiterhalf, Fahnder, die sich mit allen zweifelhaften Todesfällen der letzten Monate beschäftigten, wer sagte ihnen denn, dass das Spiel erst mit dem Schweizer begonnen hatte? Vielleicht ging es schon länger, womöglich war es ihnen erst jetzt klar geworden, weil der Mörder die Abstände zwischen den Taten verkürzt hatte. Das machte es erfahrungsgemäß wahrscheinlicher, ihn zu fassen. Auf der anderen Seite wurde es auch wahrscheinlicher, dass weitere Morde geschahen. Schäfer tauchte erneut unter.
27
„Was schaust du nicht Augen? Schlechte Gewissen?“, fuhr ihn die Putzfrau auf dem Weg in den ersten Stock an.
Schäfer blieb stehen und kratzte sich verlegen am Kopf. Madame Marjana, diese durchtriebene Person mit ihrem Hellseherblick; las sie die Gedanken der anderen im Schmutzwasser ihres Putzeimers? Schäfer war tatsächlich nicht ganz wohl in seiner Haut, als er ihr begegnete. Er hatte von ihr geträumt. Dass sie beide in einem riesigen Holzzuber saßen und sie ihm mit einer Bodenbürste den Rücken schrubbte. Er hatte wollüstige Geräusche von sich gegeben und sich übermütig in der Wanne herumgedreht, sodass das Badewasser schwallweise über den Rand schwappte.
„Ich habe schlecht geträumt“, knurrte er und ging weiter.
„Weil du falsch isst, mein chlapec“, rief sie ihm hinterher, „schwere Sache am Abend und immer Wein, kein Wunder, dass Träume schwer wie Käsetopf!“
„Was soll ein Käsetopf sein?“ Schäfer blieb am obersten Absatz stehen und drehte sich um.
„Wie in Schweiz, Topf mit viel Käse“, wunderte sie sich über seine Begriffsstutzigkeit.
„Ein Käsefondue“, sagte Schäfer zu sich selbst und wollte schon in den Gang abbiegen, als in seinem Kopf ein Gedanke eintraf wie eine SMS auf einem Handy.
„Wie nennst du mich immer, Marjana?“
„Dich? Bei andere oder zu dir?“
„Jetzt gerade … was hast du eben gesagt?“
„Chlapec?“
„Was heißt das?“
„So wie kleiner Mann … Bube …“
Schäfer schaute durch die Putzfrau hindurch, bis sie ihn mit einem Winken des Wischfetzens aus seinen Gedanken riss. „Allerhand, allerhand“, murmelte er und ging schnellen Schritts in sein Büro.
Er grüßte Bergmann, setzte sich noch im Mantel an den Schreibtisch und starrte seinen Assistenten an.
„Ist irgendwas passiert?“
„Vielleicht“, erwiderte Schäfer und zog das Telefon heran.
„Morgen, alter Mann, bist du schon aus dem Formalinbad gestiegen oder … Na ja, senile Bettflucht kann auch ein Fluch sein … Ich werd’s mir merken … aber jetzt hör zu: Ich brauche eine Akte von deinem Freund Ballas … die von der ermordeten Botschafterfrau … Ja, genau, Chlapec … Das erkläre ich dir später … kannst du ihn anrufen? … Und sag ihm, es ist dringend … Danke dir … Ebenso … Servus.“
„Gibt’s da was, das ich wissen sollte?“, fragte Bergmann.
„Na ja … ein Schuss ins Blau, wenn Sie so wollen. Dieser ungeklärte Raubmord aus dem Buch für Untersuchungsrichter, das sich Laura Rudenz ausgeliehen hat …“
„Irene Chlapec, erschossen 1992 in ihrer Budapester Wohnung …“
„Sie haben das Buch gelesen … chapeau … ja, genau die …“
„Und, weiter?“
„Chlapec heißt Junge oder Bube …“
„Woher wissen Sie das?“
„Gründliche Recherche, Bergmann … Marjana hat’s mir gesagt …“
„Wie kommt die zu dem Fall?“
„Weil sie mich immer so nennt: chlapec.“
„Unsere Putzfrau nennt Sie Bube?“, fragte Bergmann belustigt.
„Ja … was dagegen? Ich komme eben an bei den Frauen … grinsen Sie nicht so dumm …“
„Schon gut … und jetzt denken Sie …“
„Noch gar nichts … ich will nur nichts ausschließen. Es ist ein ungeklärter Mord, die Frau passt ins Muster und was Serientäter angeht, ist die zeitliche und geografische Spanne oft sehr groß … denken Sie an den Unterweger … Graz, Tschechien, Los Angeles … haben Sie übrigens gewusst, dass der das ‚Traummännlein‘ fürs Radio geschrieben hat?“
„Der Unterweger? Im Ernst? … Na, der hat unseren Vorgängern auch genug Sand in die Augen gestreut …“
„Höhö, Bergmann, richtig poetisch … ja?“, rief Schäfer zur Tür hin, an die jemand geklopft hatte.
Schreyer trat ein und fächelte mit einer vollgepackten Klarsichtfolie über seinem Kopf.
„Monsieur Schreyer, was gibt’s Neues in der Pralinenschachtel?“, begrüßte Schäfer den
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