Okarina: Roman (German Edition)
mir, das einem Chamäleon glich. Einem wurmzünglerischen Erdlöwen, vor dem ein jeder sich hüten mußte. Einem echsigen Klammerfüßler, dessen Rundumlider an die Schließen von Aschensäulen gemahnten. Einer abwegigen Kreatur, der besser aus dem Wege ging, wer an Verstandesnot litt und zu seiner Examensangst nicht noch andere benötigte.
Die laute Messingblechbefeuchterin ist ohne Mucks gewichen. Vor mir, der auch keinen Mucks getan hat. An meinem rechten Ohr vollzog die Okarina letzte Läufe, am linken schlich die Posaune durch die Tür. Ich schloß auf Konzertschluß und auf positive Wertung, wie ich die Lippen des Gutachters zum Zungenschnalz rüsten sah, rutschte vom Kübel und schob ihn gerade noch mit erlahmtem Bein in die Ecke, ehe unter Applaus und Stühlescharren die Flügelpforte aufging und der Komponist wie Solist des Okarinenkonzerts N. 1 samt seiner Maschinistin den Uraufführungsort verließ, um ins Foyer zu gelangen.
In seinem Prüfungsglück ohne Blick für den verwandten Festlandsdegen, der im erlesenen Futteral wie ein Saaldiener wirkte. Eine Rolle, die ich nicht leugnen mußte. Ich hatte einen Lärm unterbunden, einen anderen unterlassen. Darüber hinaus beteiligte ich mich, indem ich der Kunst des Neffen eine Idee und das tonerzeugende Gefäß lieh. Hatte er das Stück erdacht und dessen Soloinstrument geführt, waren erund es von mir nicht gerettet, aber behütet worden. Auf einem Kübel, vor einer Lümmelin.
Alt und grau kannst du werden, aber nicht frech! war eine Redensart durch meinen Lebensalltag hin, die ich nie so recht verstand. Jetzt war ich alt und grau und frech gewesen und setzte mir vor, bei dieser Dreiheit zu bleiben. Zumal sich an zweien von drei Elementen nichts ändern ließ. Der zunehmend unbegründeten Angst, nicht alt zu werden, war längst die zunehmend begründete Angst gefolgt, es nunmehr zu sein. Frech mußte heißen, wer sich dennoch wehrte.
Als ich in Hochstimmung aufbrechen wollte, aufs Land, zum Wald, an den See, sah ich die Posaunistin dem Okarinisten auf die Schulter klopfen, ehe sie sich mitsamt geputztem Messing und braunspaniger Gesinnung nun ihrerseits in die Prüfung begab.
»Warst gut, bester Król!«, rief sie ihrem Kommilitonen ins Gesicht. Weshalb ich diesmal nicht schwieg, sondern zum Neffen »Mach’s gut, lieber Schmul!« hinüberposaunte.
Ob eins von beiden verwundert war, ließ sich nicht erkennen, aber meinem Mitvolk ringsum sah ich, wenn nicht Stolz, so doch Zufriedenheit an. Musisch, manierlich, tolerant und kultiviert ging es unter uns zu, wohlerzogen und sogar, soweit es einzelne ältere Gesellen betraf, anrührend wohlangezogen.
Man schelte diesen älteren Gesellen oder schelte ihn auch nicht; er las die Szene, der er ansichtig wurde, las das zugehörige Stück, das im kulturvoll belebten Foyer gegeben wurde, entsann sich der Bedeutung dieses Wortes, die Feuerstätte lautet, entsetzte sich auf seine übertreibende Weise, fuhr nonstop über Nordend nach Strelitz, wo er seither nicht ohne Erfolg versucht, sich in Vereinzelung, ja Ungeselligkeit zu üben.
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Die Welt ließ mich dabei mehr als ich sie in Ruh. Wozu man wissen muß, daß zu der Zeit, in der ich das städtische Sein gegen ein ländliches tauschte, der Übergang vom internetlosenUrzustand zur Internet-Herrschaft auf Erden gerade erst begann. So seltsam es bei meiner Profession auch klingen mag: Was das Verlangen nach Information betraf, wollte ich lediglich beim Frühstück die Zeitung lesen. Das war alles. Und war fast schon zuviel.
Vor dem Ereignis, das als Wende beschrieben steht, und über dieses hinaus hatte ich ein Organ gelesen, das E NDE hieß. Natürlich hieß es nicht E NDE , aber da in Geschichten statt der führenden eine höhere Wahrheit herrscht, soll es hier so heißen. Gleich nach dem Umschwung glaubten die Herausgeber, im Zuge gründlicher Änderung müßten sie ihr Journal A NFANG nennen. Jedoch bestanden Leser wie ich auf E NDE statt A NFANG .
E NDE oder A NFANG , ich wollte das Blatt zum Anfang des Tages, nicht zu dessen Ende oder Mitte, wollte es zum Frühstück, nicht zum Mittag. Wenn du morgens in die Zeitung siehst, kannst du glauben, du könnest den Ereignissen in den Arm fallen; spätestens ab Mittag sind sie unänderbar. Zwar sage ich nicht, Frühstück sei die schönste Zeit, das wäre ungerecht gegen manches Nachtmahl, doch schön ist Frühstück schon. Zumindest, wenn die Zeitung nicht fehlt. Man hat den Tag vor sich, ist mit Überblick
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