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Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Titel: Oksa Pollock. Der Treubrüchige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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gegenüber befanden sich ansteigende Ränge, ebenfalls in einem Halbkreis, die für die Rette-sich-wer-kann bestimmt waren. Zu beiden Seiten dieser Ränge saßen all jene Treubrüchigen, die mit Orthon auf der Insel gelebt hatten. In der Luft schwebten einige Hellhörige und hielten Wache.
    Als sich die Türen des gläsernen Aufzugs öffneten und Oksa oberhalb der Ränge ausstieg, wandten sich ihr die Blicke zu. Die Versammlung war schon vollständig, mit Ausnahme von ihr, und sie verfluchte sich im Stillen, dass sie so spät kam. Bestimmt hatte Ocious sie absichtlich später holen lassen … Nach der Sitzanordnung im Saal zu urteilen, hatte er eine Vorliebe für Inszenierungen. Die Rette-sich-wer-kann erhoben sich, ihre Füße scharrten auf den türkisfarbenen Bodenplatten. Die Treubrüchigen taten es ihnen nach, einige allerdings nur widerwillig und wohl eher, um Ocious’ Beispiel zu folgen, der bereits mit weit geöffneten Armen dastand.
    »Da ist ja unsere Junge Huldvolle!«, dröhnte er. »Komm herbei, hab keine Angst!«
    Mit einer Geste deutete er auf den Sessel ihm gegenüber vor den Rängen, mit dem Rücken zu den Rette-sich-wer-kann. Oksa fühlte sich eingeschüchtert. Es kam ihr vor, als würde sie vor Gericht stehen und sollte angeklagt werden, allein vor ihren Richtern. Doch ihr Ringelpupo pulsierte rhythmisch, und so beruhigte sich ihr Herzschlag schließlich und fand zu dem Takt, den das kleine Geschöpf mit seinen Bewegungen vorgab. Oksa hob den Kopf. Rechts und links des Mittelgangs sah sie vertraute Gesichter: ihren Vater, Abakum, Zoé, Tugdual … Alle schauten sie mit einer Zugewandtheit an, in der sich zwar ihre Befürchtungen spiegelten, in der aber auch eine große Kraft lag. Oksa konnte sich auf sie verlassen, sie waren bei ihr, an ihrer Seite – und nicht hinter ihr, wie Ocious es mit dieser Sitzordnung suggerieren wollte. Was auch geschehen würde, sie waren da. Als sie sich das klargemacht hatte, stieg sie, eskortiert von Annikki, die Stufen hinunter, und zwar sicherer, als sie zunächst befürchtet hatte. Die Blicke ihrer Lieben hatten ihr neuen Mut geschenkt.
    Ocious fixierte Oksa neugierig, als sie sich setzte, und sie fragte sich, was er wohl in ihr sah. Sein stechender Blick bereitete ihr Unbehagen, aber sie zwang sich, ihm standzuhalten. Es war eine Prüfung, die sie sich auferlegte, um nicht völlig die Fassung zu verlieren. Doch dann ließ Ocious mit einem Mal von ihr ab und wandte sich Orthon und seinen Söhnen zu, die inmitten der Neuankömmlinge standen.
    »Lieber Sohn, liebe Enkel, endlich sind wir hier versammelt. Wer hätte ein solches Wunder für möglich gehalten? Kommt doch bitte an meine Seite!«, forderte er sie auf und zeigte auf die vier frei gebliebenen Sessel auf dem Podium. »Du auch, meine Tochter«, fügte er mit einem Blick auf Remineszens hinzu.
    Kreidebleich hielt die alte Dame dem Blick ihres Vaters stand, ohne sich von der Stelle zu rühren. Orthon hingegen trat mit triumphierender Miene aufs Podium, gefolgt von Gregor und Mortimer. Sie setzten sich unter dem Applaus von Orthons und Ocious’ Getreuen. Oksa spürte einen Stich in ihrem Herzen: Drei Generationen der schlimmsten Treubrüchigen, die die beiden Welten je gekannt hatten, waren hier versammelt. Warum war ihnen das vergönnt, während den Pollocks und anderen Rette-sich-wer-kann ihre Liebsten fehlten?
    Oksas Blick blieb an den Treubrüchigen und Mauerwandlern hängen, die sich überschwänglich begrüßten. Einzig Mortimer stimmte nicht in die allgemeine Ausgelassenheit mit ein. Hinter seiner robusten Fassade wirkte er unbeteiligt, ja verloren. Da fiel Oksa plötzlich ein, dass Barbara McGraw, Mortimers Mutter, ja eine Von-Draußen war! Oksa hatte von der zerbrechlich wirkenden Frau nur einen flüchtigen Eindruck bekommen, doch soweit sie das beurteilen konnte, umsorgte sie ihren Sohn mit viel Liebe. Das war also der Grund für Mortimers Kummer.
    Orthon hingegen verschwendete keinen einzigen Gedanken an andere. Er dachte nur an sich und kostete die offizielle Anerkennung seines Vaters in vollen Zügen aus. Er war Ocious’ Sohn und würde nun endlich an seiner Seite sitzen. Doch nachdem Ocious ihn lange Zeit feierlich umarmt hatte, drehte er sich zu einem etwa fünfzigjährigen Mann um, der zu seiner Rechten saß. Er trug ­einen dunkelgrauen Anzug, war groß, hager und zeigte keinerlei Gefühlsregung.
    »Orthon, mein Sohn«, setzte Ocious an. »Unser Wiedersehen wäre nicht perfekt, wenn ich dir

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