Oksa Pollock. Die Entschwundenen
rief Oksa.
»Die Alterslosen werden euch alles erklären«, erklang die Stimme des Raben. »Lebt wohl!«
Oksa senkte den Kopf. Sie sah sich nach ihrem Vater um, der völlig niedergeschmettert am Boden saß und den Kopf in den Händen abstützte. Dann blieb ihr Blick an Remineszens hängen, die wie erstarrt dasaß. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als wolle sie mit aller Macht einen Schrei zurückhalten. Zoé neben ihr hatte den leeren Blick derer, die gerade einen Schock erlitten haben. Der Lichthof mitten im Raum zeichnete sich unter lautem Knistern noch deutlicher ab. Eine Stimme hob an, klar und ernst: »Wir verneigen uns vor der Jungen Huldvollen und bezeugen den Rette-sich-wer-kann unseren Respekt, auch dem, der sein Leben im Gemälde gelassen hat. Gebt die Hoffnung auf seine Wiederkehr auf, akzeptiert seine Wahl.«
»Seine Wahl?«, schrie Oksa wütend. »Seit wann hat man die Wahl, wenn man sich opfert?«
»Leomido hat sich nicht geopfert«, berichtigte die Alterslose. »Er hätte zusammen mit Euch entgemäldet werden können. Dass er geblieben ist, war seine freie Entscheidung.«
Remineszens und Dragomira sahen sich schmerzerfüllt an.
»Was bedeutet diese Geschichte vom Mauerwandler huldvollen Blutes, Bruder von Orthon und Remineszens?«, wollte nun Zoé wissen.
Die Alterslose antwortete nicht sofort. Der Lichthof trübte sich und strahlte weniger stark. Dann kehrte das Knistern zurück, zusammen mit einem intensiveren Leuchten.
»Ocious, der Vater von Orthon und Remineszens, war ein guter Freund der Huldvollen-Familie, und die Kinder beider Familien wuchsen sozusagen zusammen auf. Doch als Remineszens und Leomido ihre große Liebe füreinander entdeckten, verschlechterte sich die Situation. Die Huldvolle Malorane und Ocious taten, was sie konnten, um die beiden voneinander zu trennen. Ohne Erfolg. Zur gleichen Zeit wurde Ocious immer ehrgeiziger. Er kam auf die teuflische Idee, Orthon zu manipulieren, indem er ihm ein Geheimnis verriet, das seinen Hass auf die Huldvolle wachrufen würde. Als Orthon Malorane danach fragte, wollte sie ihn nicht anlügen. Sie sah sich gezwungen, Orthon zu bestätigen, was Ocious ihm schon verraten hatte: das Geheimnis seiner Abstammung und das der Liebe, die sie für ihn und seine Zwillingsschwester Remineszens empfand. Es war die einer Mutter für ihre Kinder. Allerdings konnte sie nicht ahnen, dass sie durch ihr Geständnis die Von-Drinnen ins Große Chaos stürzen würde.«
Remineszens’ Züge verzerrten sich. »Nein!«, rief sie entsetzt über die schreckliche Offenbarung.
»Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung davon«, fuhr die Alterslose fort. »Beide Kinder wurden zu Anfang der streng geheimen Verbindung zwischen Ocious und Malorane geboren, als Malorane noch sehr jung war. Später heiratete sie Waldo und bekam zwei Jahre nach der Hochzeit ein Kind, Leomido. Die Zwillinge Orthon und Remineszens wurden sofort nach ihrer Geburt von Ocious und seiner Frau, die unfruchtbar war, aufgenommen.«
»Unglaublich!«, entfuhr es Oksa. »Wenn ich das also richtig verstanden habe, sind Baba, Leomido, Orthon und Remineszens tatsächlich Geschwister!«
Der Lichthof bebte und knisterte heftig.
»Genau genommen sind sie Halbbrüder und Halbschwestern, aber das spielt keine Rolle. Dass Familienbande bestehen, lässt sich nicht leugnen. Als Malorane Orthon ihre Mutterschaft bestätigte, veränderte er sich von Grund auf. Bisher hatte er immer im Schatten seines Vaters gestanden, der sich nie eine Gelegenheit entgehen ließ, ihn – oft zu Leomidos Gunsten – zu erniedrigen. Orthon war ein viel zu sensibler junger Mann, um den Erwartungen eines so grausamen Vaters wie Ocious gewachsen zu sein. Das nährte seinen Hass auf Malorane: Wenn seine leibliche Mutter nicht die Verantwortung für ihn übernommen hatte, konnte das nur bedeuten, dass er es in ihren Augen nicht wert war, ihr Sohn zu sein – der Sohn der Huldvollen. Nein, Leomido war derjenige, dem das Privileg der offiziellen Anerkennung zuteilwurde – und ihm nicht. So dachte er, und bald schon verwandelte ihn diese Überzeugung in ein kaltes Wesen. Manche Wahrheiten können Menschen zerstören. Oder sie unbesiegbar machen. Nach den ersten Tagen lösten unersättliche Rachegelüste seinen Kummer ab. Als Erstes machte er sich zum Komplizen der Liebsten-Entfremdung seiner Schwester Remineszens. Damit bewies er einerseits seinem Vater, dass er genauso unbarmherzig war wie er, und andererseits traf er
Weitere Kostenlose Bücher