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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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Abakum? Er hasst mich! Mein Sohn hasst mich!«
    »Nein, Dragomira, er leidet.«
    Das kleine schmiedeeiserne Tor wurde unsanft geschlossen. Dragomira ließ sich in den alten Sessel aus karminrotem Samt fallen.
    »Es ist so furchtbar«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Wir sind ihnen einfach nicht gewachsen. Manchmal möchte ich am liebsten aufgeben.«
    »Das würde nicht gehen, nicht mal, wenn wir es wollten, und das weißt du allzu gut«, entgegnete Abakum. »Niemand kann vor seinem Schicksal davonlaufen. Niemand«, sagte er mit Nachdruck und sah dabei Oksa hinterher, die die Straße entlangging. »Die Alterslosen haben gesprochen. Du weißt, was das bedeutet. Versuch nicht, dem, was geschrieben steht, zu entkommen. Keiner kann das.«
    Rasch und entschlossen marschierte Oksa den Bürgersteig entlang. Gus versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Oksa sah furchtbar aus: Sie war blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen und atmete so mühsam, als würde ein zentnerschweres Gewicht auf ihrer Brust lasten. Als sie ein Stück Zeitungspapier auf dem Boden liegen sah, wollte sie es mit einem gezielten Fußtritt aus dem Weg kicken. Das Papier blieb jedoch an ihrem Schuh kleben, und Wut stieg in ihr hoch. Oksa schüttelte den Fuß und öffnete, als das Blatt sich einfach nicht lösen wollte, die Hand, während sie ein paar Flüche murmelte. Sogleich ging das Papier in Flammen auf, und die Passanten auf ihrem Weg warfen ihr misstrauische Blicke zu.
    »Oksa!«, schrie Pavel, nachdem er sie eingeholt hatte.
    Doch er verstummte sofort, als er den Ausdruck in den Augen seiner Tochter sah.
    »Der ganze Dreck hier überall regt mich so auf«, schimpfte sie.
    »Mann, Oksa!«, rief Gus und stupste sie liebevoll an. »Du wirst dich doch nicht etwa wegen dieser dämlichen Zeitung auf dem Boden so aufregen?!«
    Oksa sah ihn nur an und brach in Tränen aus. Ihr Vater drückte sie an sich und fuhr ihr mit seiner kräftigen Hand durchs Haar.
    »Es ist doch nicht diese dämliche Zeitung, die mich so fertigmacht«, stieß sie mühsam hervor.
    »Ich weiß, mein Schatz, ich weiß …«
    »Außerdem schnürt mir diese blöde Krawatte die Luft ab!«, sagte sie und zerrte rücksichtslos an dem Knoten. »Ich kriege keine Luft mehr!«
    Pavel sah sie unglücklich an. Dann half er ihr, die in den Farben der St.-Proximus-Schule dunkelblau und rot gestreifte Krawatte zu lockern.
    »Du musst dich zusammennehmen. Wie wir alle«, sagte er mit einem Seitenblick auf Zoé, die ein Stück weiter reglos auf dem Bürgersteig stand.
    »Komm«, meinte nun Gus. »Eine Ninja lässt sich nicht so leicht unterkriegen, nicht mal von einer unbequemen Schuluniform! Und weißt du was? Der Faltenrock steht dir richtig gut, da kommen deine Storchenbeine toll zur Geltung!«
    »Storchenbeine, hast du gesagt? Und weißt du, was ich dir darauf antworte?«, fragte sie und wischte sich mit dem Ärmel über die Wangen.
    Sie ließ die Hand kreisen. Sofort kam ein Windstoß auf, der Gus unter die Haare fuhr und eine pechschwarze Strähne vor seine Augen legte. Gus strich die Strähne unter lautem Protest zurück und schwor Oksa Rache. Das amüsierte sie, und ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Dankbar sah sie Gus und ihren Vater an, wagte es jedoch nicht, zu Zoé zu schauen. Zoé ging es garantiert genauso schlecht wie ihr, doch im Gegensatz zu ihr ließ sie sich nichts anmerken. Seit der Offenbarung der Alterslosen kam man nicht mehr an sie heran. Keine Träne, kein Wort über das enthüllte Geheimnis, das in erster Linie sie betraf. Wie konnte Zoé bloß so unerschütterlich bleiben? Plötzlich trafen ihre Blicke sich, und Oksa glaubte, unaussprechliches Leid in Zoés Augen zu sehen. Den Bruchteil einer Sekunde später wirkte Zoé jedoch wieder ganz gelassen. Oksa konnte es nicht fassen.
    »Wir sollten uns jetzt doch mal auf den Weg machen, oder?«, rief sie und schulterte ihre Tasche. »Sonst kommen wir am Ende noch zu spät wegen eurer Geschichten.«
    Gus warf Zoé einen gespielt empörten Blick zu, doch die zuckte nur die Achseln.
    »Also, Kinder, auf geht’s«, sagte nun auch Pavel, und die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung.

Verwirrende Gegensätze
    O
ksa und Gus blieben einen Augenblick gegenüber dem Portal stehen, durch das man auf den prächtigen Hof der St.-Proximus-Schule gelangte. Seit über drei Monaten waren sie nicht mehr da gewesen.
    »Alles klar?«, fragte Gus mit vorgetäuschter Begeisterung.
    »Alles klar!«, antwortete Oksa seufzend. »Bis

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