Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Schutzschild. Da warf sich Tugdual zwischen Oksa und den Umriss. Die Silhouette hielt inne und trat dann gefährlich nahe an den Jungen heran. Tugdual blieb ungerührt stehen.
»Willst du dich mit mir verbünden?«, erklang Orthons eisige Stimme.
»Danke nein«, sagte Tugdual verächtlich.
»Dabei wärst du ein echter Gewinn«, fuhr der Treubrüchige fort. »Noch ist es nicht zu spät, weißt du? Mein Angebot bleibt nicht ewig gültig.«
»Ich habe bereits abgelehnt!«
»Wirklich schade! Aber beklage dich hinterher nicht bei mir, wenn du merkst, dass es die falsche Entscheidung war. Ich würde dich wie einen elenden Wurm zerquetschen, denn das ist es, was du bist!«
Kaum hatte er das gesagt, schoss eine Welle, schwarz wie Ruß, aus der Silhouette zu Tugdual und schleuderte ihn an die Decke. Dort blieb er ein paar Sekunden hängen, offensichtlich unter großen Schmerzen, ehe er mit einem Schrei zu Boden fiel. Nun trat die Gestalt auf Oksa zu, die versuchte, sie mit ausgestrecktem Arm abzuwehren. Vergeblich. Kaum berührte die Silhouette sie, wurde sie von einem grauenvollen Gefühl erfasst. Es war, als wäre sie schlagartig in einem Eisblock eingemauert worden. Sie bemerkte einen Aufruhr um sich herum. Erst drangen noch die panischen Schreie ihres Vaters und Dragomiras deutlich zu ihr durch, doch dann wurden sie, in dem Eis, das sie umschloss, immer undeutlicher. Und schließlich erstarb alles.
Oksa wollte die Augen öffnen. Starke Schmerzen hielten sie davon ab. Sie gab jedoch nicht auf, sondern versuchte stattdessen zu sprechen.
»Papa …«
War das Wort wirklich über ihre Lippen gekommen? Unmöglich, es herauszufinden. Sie hörte nichts, sah nichts, spürte nichts.
Die Rette-sich-wer-kann umringten die beiden leblosen Mädchen. Pavel war außer sich. Er saß neben seiner Tochter, ihren Kopf auf dem Schoß, und starrte Dragomira rasend vor Wut an.
»Wenn sie stirbt, bringe ich dich um«, schleuderte er ihr voller Zorn entgegen.
»Dann würde ich sowieso von selbst sterben«, erwiderte sie tieftraurig.
Abakum nahm Oksas Handgelenk und fühlte ihren Puls. Den Blick ins Leere gerichtet, wartete er eine Weile. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und seine Schultern sackten nach vorn. Pavel stöhnte auf. Abakum beugte sich vor und legte das Ohr an Oksas Brustkorb.
»Sie lebt! Aber wir müssen sofort etwas unternehmen! Hast du noch das Abyssimus-Elixier, Dragomira?«
Die Baba Pollock warf ihm einen verwunderten Blick zu, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und wollte die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstürmen.
»Ich verbiete dieser Frau, sich meinem Kind auch nur zu nähern!«, platzte Pavel heraus. »Sie hat schon genug Schaden angerichtet!«
Bei seinen harschen Worten zuckten alle zusammen. Dragomira hielt am Fuß der Treppe inne. Alle hörten den tiefen Schluchzer, der aus ihrer Brust kam.
»Diese Frau ist deine Mutter«, entgegnete Abakum mit fester Stimme. »Du musst begreifen, dass es ohne sie noch viel schlimmer gekommen wäre.«
»Ach ja?«, sagte Pavel gehässig. »Marie wurde entführt, Leomido und die Plempline sind tot, meine Tochter und eine Freundin schweben in Lebensgefahr, und wir alle sind Kräften ausgeliefert, die uns über den Kopf wachsen. Und du findest, dass es immer noch nicht reicht?«
»Hör auf damit! Hör sofort auf!«, brüllte Abakum plötzlich los. »Und kämpfe! Falls du weißt, was dieses Wort bedeutet!«
Pavel war schockiert. Die Worte trafen ihn wie ein Peitschenhieb. Mit zusammengepressten Lippen musterte er Abakum.
»Deine Mutter kann nichts für die Tragödie, die über uns hereinbricht, und das weißt du!«, fuhr der alte Mann fort. »Der Unterschied zwischen dir und ihr ist, dass sie niemals aufgeben würde, selbst wenn die Versuchung groß ist. Deine Mutter ist nicht perfekt, aber sie ist kämpferisch veranlagt und lässt sich nicht so schnell unterkriegen. Ich bitte dich also um mehr Respekt, Pavel. Indem du sie beleidigst, beleidigst du alle Rette-sich-wer-kann. Und allen voran deine Tochter.«
Pavel hielt seinem Blick kurz stand, senkte jedoch bald den Kopf. Abakum legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter: Pavels Schmerz war unermesslich, alle litten mit ihm. Und Solidarität war und blieb ihr größter Trumpf.
Dragomira kehrte kurze Zeit später mit einem Kristallfläschchen in der Hand zurück. Sie kniete sich neben Pavel und öffnete den versiegelten Wachsverschluss des Flakons. Ein starker Geruch nach Sumpf drang heraus.
»Bist du
Weitere Kostenlose Bücher