Oksa Pollock. Die Entschwundenen
zogen sie sehr vorsichtig heraus. Ich nutzte den Moment, als alle gespannt auf die Leinwand schauten, um zu entkommen, und versteckte mich schnell in einer Zimmerecke. Ich darf sagen, dass ich ihnen nur knapp entkommen bin, denn Oskar nahm gleich darauf den Behälter zur Hand. Er wollte herausfinden, woher die noch frischen Schmutzspuren auf der Leinwand stammten. Sie fingen sofort an, im Zimmer zu suchen. ›Da muss irgendetwas sein! Seht überall genau nach!‹, sagte die Frau. Ich hielt mich hinter einem Vorhang versteckt, von wo ich zwar nichts sehen, aber alles hören konnte, und suchte inzwischen nach einem Fluchtweg aus dem Haus. Da ertönte plötzlich ein Aufschrei. Und ich hörte die Frau fragen: ›Was ist, Mutter?‹ Die zweite Frau antwortete: ›Sie hat uns reingelegt! Das ist nicht das Gemälde!‹
Oskar, der, ohne es zu wissen, nur zweiundvierzig Zentimeter von mir entfernt stand, brüllte: ›Was soll das heißen?‹
Die Frau antwortete: ›Seht doch, es ist eine Kopie! Natürlich, es ging ja auch alles viel zu einfach! Die alte Hexe hat geahnt, was passieren würde, und hat uns hinters Licht geführt. Oh, ich könnte …‹
Und außer sich vor Zorn packte sie den Holzköcher und schleuderte ihn drei Meter vierundzwanzig weit in die nördliche Zimmerecke. Da bewegte sich auf einmal der Vorhang, hinter dem ich mich versteckt hielt, und Gregor, der große hagere Mann, stand vor mir. Mit dem Mut der Verzweiflung flog ich, so schnell ich konnte, zur Tür, die mehr als fünf Meter entfernt war. ›Fangt es, es darf auf keinen Fall entkommen!‹, schrie die zweite Frau. Alle hefteten sich an meine Fersen. Ich flog, so schnell ich konnte. Meine Flügel taten mir schon weh, und übel wurde mir auch schon wieder. Ich schaffte es bis in die Eingangshalle und spürte einen Luftzug – Richtung Westsüdwest, Geschwindigkeit fünfundvierzig Stundenkilometer –, der aus einem anderen Zimmer kam. Inzwischen schossen mir meine schrecklichen Gastgeber Granuks hinterher, und die Frau, die ihre Anführerin zu sein schien, hätte mich beinahe mit einem Knock-Bong erledigt. Ich glaube, nur die Angst, gefangen zu werden, und meine Treue gegenüber der Alten Huldvollen haben mich gerettet. Ich sauste in das Zimmer, aus dem der Luftzug kam, und entdeckte einen Belüftungsschacht in der Wand, dessen Öffnung gerade eben groß genug war, dass ich hineinpasste. Als ich mich ganz in die Öffnung gezwängt hatte, spürte ich einen gewaltigen Luftwirbel hinter mir, mindestens zweihundertdreißig Stundenkilometer schnell. Diese niederträchtige Frau hatte mir ein Tornaphyllon-Granuk hinterhergeschickt! Zum Glück befand ich mich bereits in dem Belüftungsschacht, aus dem ich zwölf Sekunden später wieder herauskam. Dann sauste ich, so schnell es ging, zu Euch zurück, verehrte Huldvolle. Mir ist bewusst, dass meine Mission unvollständig ist, und das beschämt mich. Verzeiht Ihr mir meine vagen Auskünfte, verehrte Herrin?«
»Aber natürlich, mein liebes Krakeel«, sagte Dragomira. »Du hast hervorragende Arbeit geleistet, ich bin sehr zufrieden. Aber sag mir, hast du sehen können, wer diese zweite Frau war?«
»Verehrte Huldvolle, trotz meines stark beeinträchtigten Zustands ist mir die Identität der Treubrüchigen nicht entgangen«, gab das Krakeel zurück.
»Sagst du mir ihren Namen?«
Das Wackelkrakeel blickte sich misstrauisch um, betrachtete einen Moment lang die ganzen Geschöpfe im Atelier, die gebannt an seinen Lippen hingen, und schaukelte seinen plumpen, kegelförmigen Körper verlegen hin und her. Es schien angestrengt zu überlegen, kniff dabei die kleinen glänzenden Augen ganz fest zusammen und rang sich schließlich zu einer Entscheidung durch. Es flog auf Dragomiras Schulter, setzte sich vorsichtig hin und flüsterte ihr einen Namen ins Ohr – nur einen Namen. Die Baba Pollock wurde bleich und ließ sich schwer atmend in einen Sessel fallen.
Dragomiras alte Freundin
D
as beherzte Wackelkrakeel war noch nicht lange mit seinem Bericht fertig, als drei Personen geräuschlos die Eingangstür zum Haus der Pollocks aufbrachen. Dragomira war keineswegs überrascht, sondern hatte diesen Besuch schon erwartet. Seit dem Nachmittag hatte sie von ihrem Fenster aus beobachtet, wie sich auf dem Bigtoe Square die Beschatter ablösten. Als die Nacht hereingebrochen war, hatten die Spione jede Heimlichkeit aufgegeben, und drei Personen hatten sich vor der Eingangstür postiert, um jeden, der ein oder aus gehen
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