Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
sie es am liebsten getan hätte, feuerte sie einen Knock-Bong auf ihn ab, den sie im letzten Moment noch zu zügeln versuchte. Schließlich wollte sie ihren Freund ja nicht umbringen! Gus wurde auf seinem Schreibtischstuhl quer über den Dachboden gefegt, er musste sich mit aller Kraft an der Lehne festklammern. Als der Stuhl gegen die Wand stieß, wurde der Junge nach vorn katapultiert. Er konnte sich gerade noch halten.
»Spinnst du?«, schrie er sie an, kreidebleich im Gesicht.
Oksa war vor Schreck genauso blass wie er.
»Weißt du eigentlich noch, wer Freund und Feind ist? Ich bin jedenfalls nicht der Böse, das solltest du eigentlich wissen.«
Oksa hätte ihm am liebsten gesagt, dass er den Mund halten solle. Doch sie brachte kein Wort heraus und sah ihn bloß verzweifelt an. Und auf einmal verschwand Gus’ trotziger Ausdruck und machte der mitfühlenden Sanftmut Platz, die ihm früher eigen gewesen war. Auf seinem Stuhl sitzend, rollte er zu Oksa zurück.
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, sonst wäre sie sofort in Tränen ausgebrochen. Deshalb drehte sie den Kopf zur Seite.
»Entschuldige«, murmelte Gus und kam noch näher.
Oksa vergrub den Kopf zwischen den Knien. »Warum benimmst du dich so seltsam, seit ich zurückgekommen bin?«, murmelte sie.
»Wie benehme ich mich denn?«
»Wie jemand, der mich hasst!«
Gus seufzte.
»Ich hasse dich nicht, Oksa.«
»Wir haben uns vorher so gut verstanden …«
»Vor was? Bevor du dich in einen anderen verliebt hast? Das darf ich dir nicht übel nehmen, es ist dein gutes Recht, obwohl es mir lieber gewesen wäre, wenn du dich nicht gerade diesem verräterischen Grufti in die Arme geworfen hättest.«
Gus’ Worte waren nicht eben freundlich, doch noch während er sie aussprach, schien er sie zu bedauern. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte in weitaus sanfterem Ton: »Und ich dachte eigentlich, das, was in der Wüste Gobi zwischen uns passiert ist, wäre dir wichtig. Ich dachte, dass es etwas bedeutet. Etwas Gutes. Etwas Starkes. Verstehst du?«
Nur Oksas stoßweiser Atem zeigte, dass sie Gus genau verstanden hatte.
»Du hast mich geküsst, Oksa. Weißt du das überhaupt noch? Das war nicht meine Idee!«
Er streckte die Hand aus und versuchte, Oksas Kinn anzuheben. Sie wehrte sich.
»Wenn du dich wie eine Schildkröte in deinem Panzer verkriechst, bringt uns das nicht weiter.«
Als die Junge Huldvolle nicht reagierte, nahm er sie bei den Schultern. Erstaunt hob sie endlich den Kopf.
Gus nutzte die Gelegenheit, um ihr einen leidenschaftlichen Kuss zu geben.
Dann stand er auf und ließ sie allein.
Missverstandene Genies
A ls Gregor das luxuriös ausgestattete Zimmer von Leokadia Bor betrat, um sie abzuholen, wusste sie, dass sie sich nun endlich wieder an die Arbeit machen konnte.
Während der letzten zwanzig Jahre war sie bei ihren Kollegen immer nur auf Ablehnung gestoßen, hatte gar Entsetzen und Verachtung hervorgerufen. Die Reaktion der anderen Wissenschaftler hatte sie schließlich in den Untergrund gedrängt. Im Schutz ihres Labors in einem finsteren Keller hatte sie ihre Experimente fortgesetzt – in der festen Überzeugung, dass die Menschheit eines Tages anerkennen würde, was für ein Genie sie war. Dann, ja, dann würden alle sie auf Knien anflehen, ihnen ihre Blindheit zu verzeihen.
Doch irgendwann hatte es so ausgesehen, als ob dieser Tag nie kommen würde. An einem trüben Wintermorgen war die Polizei in Leokadia Bors kleines Haus am Rand von Warschau eingedrungen. In Handschellen musste sie zusehen, wie an die fünfzig schwer bewaffnete Polizisten ihr Labor auf den Kopf stellten und das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit beschlagnahmten. Wobei sich die Wissenschaftlerin paradoxerweise durch ihre Verhaftung geschmeichelt fühlte: Das war der Beweis, dass ihre Recherchen in der Fachwelt also doch auf Interesse stießen, dass sie mit Neid betrachtet wurde. Doch es trieb sie zur Weißglut, von diesen Barbaren wie ein Ungeheuer behandelt zu werden. Was wollte die Polizei mit all ihren Unterlagen, ihren Forschungsmaterialien? Sie dem Meistbietenden verkaufen? War ihnen überhaupt klar, dass diese Unterlagen die Hoffnung auf eine bessere Welt enthielten?
Leokadia Bors Selbstbild erlitt allerdings einen Dämpfer, als sie merkte, dass sie gar nicht im berühmt-berüchtigten CIA -Geheimgefängnis in Warschau inhaftiert worden war, wie man sie glauben machen wollte. Sie hatte mitbekommen, wie die Wärter sich in
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