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Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)

Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)

Titel: Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cendrine Wolf , Anne Plichota
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einer ihr vertrauten baltischen Sprache unterhielten, und schloss daraus, dass sie sich in einem dieser abgelegenen Gefängnisse befand, deren Existenz keine Regierung der Welt offiziell anerkannte.
    Das war ein schwerer Schlag für sie. Wenn keiner wusste, wo sie sich befand, wie sollte sie dann je wieder aus diesem Rattenloch herauskommen? Doch selbst wenn jemand davon gewusst hätte: Wer hätte ihr schon zu Hilfe kommen sollen? Sie hatte weder Freunde noch Familie, war immer nur von Ignoranten umgeben gewesen, die sie um ihre außergewöhnliche Intelligenz beneideten.
    Dann kam die Stunde ihres Prozesses. Oder vielmehr der Parodie ihres Prozesses. Ihr Anwalt, der schlechteste, den man hatte auftreiben können, ließ sie nicht zu Wort kommen. Alleine hätte sie sich viel besser verteidigt! Das Urteil wurde verkündet: dreißig Jahre Haft wegen illegaler medizinischer Experimente. Leokadia Bor gebärdete sich wie eine Furie: Sie schrie ihre Empörung über die Richter heraus, spuckte Gift und Galle und konnte nicht fassen, dass die Fachwelt sich weiterhin stur weigerte, das Offensichtliche anzuerkennen.
    Was hatten sie gesagt? Als was bezeichnete man sie?
    Als größenwahnsinnige Wissenschaftlerin? Als psychopathische Genforscherin?
    Rein gar nichts hatten die verstanden. Eine Visionärin war sie, eine Wohltäterin der Menschheit!
    Und außerdem eine vierzigjährige Frau, die, wenn sie eines Tages wieder aus der Haft entlassen würde, eine alte Schachtel ohne Zukunft wäre. Doch das Gericht ließ sich weder von ihrem lautstarken Protest noch von ihren Klagen erweichen. Leokadia Bor verschwand wieder hinter den dicken Mauern des baltischen Gefängnisses, zermürbt von dem Gedanken, dass die Welt niemals von ihrer Genialität erfahren würde.
    Dann aber geschah ein Wunder, und sie schöpfte wieder Hoffnung. Die drei Männer, die sie aus ihrem Kerker befreiten, waren ihr zwar vollkommen unbekannt, aber ihr Instinkt befahl ihr, zu schweigen und sie gewähren zu lassen.
    Kurze Zeit später fand sie sich auf einer eisigen Bohrinsel wieder, bewohnt von Männern und Frauen, die wie sie geächtete oder verkannte Genies waren, hier jedoch verstanden und respektiert wurden. Endlich hatte ihr Schicksal sich doch noch zum Guten gewendet.
    Die Räume im Inneren des Wohnturms auf der
Salamander
waren streng geometrisch angeordnet und bis auf einige Ausnahmen funktional gehalten. Im vierten Stock war Orthons seltsamstes und beunruhigendstes Projekt untergebracht. Außer ihm selbst und seiner Leibgarde, also seinen Söhnen und Markus Olsen, hatte bisher niemand diese Etage betreten dürfen.
    Eine Schleuse öffnete sich, als Gregor und Leokadia Bor sich näherten. Sie mündete in einen schmalen, von blendend weißen Lichtern erhellten Gang, von dem drei gepanzerte Türen abgingen.
    Gregor und Leokadia blieben vor der ersten Tür stehen. Orthons Sohn zog ein Etui aus seiner Hosentasche und nahm eine dicke, unappetitlich aussehende grüne Nacktschnecke heraus, die er vors Schloss hielt. Sie wand ihren unförmigen Körper in alle Richtungen und zwängte sich dann mit schmatzenden Geräuschen ins Schlüsselloch. Gedämpftes Klicken erklang, dann tauchte der lebendige Schlüssel wieder auf und die Tür öffnete sich. Aus dem Inneren des Raums drang grelles Licht, es zwang die beiden Besucher, die Augen mit den Händen abzuschirmen. Gregor trat zur Seite, um seine Begleiterin durchzulassen.
    »Leokadia Bor!«, ertönte Orthons Stimme.
    Der Treubrüchige trat zu ihr, ergriff ihre Hände und drückte sie mit erstaunlicher Wärme. Falls sie sich darüber wunderte, war es ihr jedenfalls nicht anzumerken. Orthon ließ ihre Hände wieder los und musterte sie so aufmerksam, dass es unter anderen Umständen unverschämt gewesen wäre. Doch Leokadia Bor sagte sich, dass sie diesem Mann mit den metallgrauen Augen und den übernatürlichen Fähigkeiten ihre Freiheit zu verdanken hatte. Und die hatte ihren Preis. Sollte er sie doch so lange ansehen, wie er wollte, wenn es ihm Spaß machte.
    Nach einer Weile brach Orthon in Gelächter aus. Ein spöttisches und gleichzeitig erstauntes Gelächter. Die Frau wich einen Schritt zurück.
    »Entschuldigen Sie mein schlechtes Benehmen, Verehrteste! Aber Sie sehen so … harmlos aus!«
    Bei diesen in perfektem Polnisch ausgesprochenen Sätzen lachte Leokadia ihrerseits kurz auf. Orthon musterte sie erneut: Sie war klein und füllig, hatte kurzes grau meliertes Haar und ein nichtssagendes, weder hübsches noch

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