Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
vor wie ein altes, verwundetes Raubtier, und das merkte man ihm auch an. Seit der Rückkehr der Rette-sich-wer-kann nach Edefia lief alles aus dem Ruder. Zwar eröffnete die Anwesenheit einer Neuen Huldvollen Möglichkeiten, auf die keiner von ihnen mehr zu hoffen gewagt hatte. Dank ihr bestand nun die Chance, dass sich das Tor erneut öffnen würde … Und dann könnte er sich endlich seinen Lebenstraum erfüllen: Er würde seine erdrückende Überlegenheit über die Menschen nutzen und sich das Da-Draußen untertan machen. Doch für den Augenblick hatte die Unverhoffte jene Pläne durcheinandergebracht, auf die er sein ganzes Leben lang hingearbeitet hatte.
»Du hattest recht, Vater«, sagte Andreas mit zorniger Stimme. »Die Junge Huldvolle hält sich in Laubkroning versteckt. Und diese schändlichen Silvabulaner stehen alle auf ihrer Seite!«
Orthon warf seinem verfeindeten Halbbruder einen verächtlichen Blick zu. »Dieser Aufstand scheint euch einen mächtigen Schock versetzt zu haben«, stieß er hervor und durchbohrte Ocious mit seinem eigenartig metallischen Blick. »Dabei war er doch vollkommen vorhersehbar, um nicht zu sagen unvermeidlich!«
Er ließ seinen Vater nicht aus den Augen.
»Du hast dich bei deinem Volk für den Weg der Mäßigung entschieden, und das war ein Fehler. Was jetzt in Laubkroning geschehen ist, beweist es.«
Die treuesten seiner Anhänger, ungefähr zehn an der Zahl, saßen im Kreis um Ocious herum. Jetzt rutschten sie unruhig auf ihren Stühlen herum: Der heimgekehrte Sohn war zu weit gegangen. Alle hielten den Atem an, als sich die Augen des Meisters zu Schlitzen verengten.
»Wie kannst du es wagen?«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Doch Orthon ließ sich nicht einschüchtern. Lässig strich er sich mit der Hand über die glatt nach hinten gekämmten Haare. »Anstatt mich zu tadeln, solltest du lieber den Tatsachen ins Auge sehen. Du hast diesen Leuten gegenüber zu viel Milde walten lassen. Und jetzt hast du die Quittung dafür bekommen: Du hast Rebellen aus ihnen gemacht, die deine Autorität nicht mehr anerkennen. Das Volk von Edefia hat keine Angst mehr vor dir, Vater.«
»Du hast nicht die geringste Ahnung, mit welchen Schwierigkeiten wir hier seit sechzig Jahren zu kämpfen haben«, donnerte Ocious außer sich vor Wut. »Ich habe getan, was ich konnte, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und unser Überleben in einer dahinsiechenden Welt zu sichern. Glaubst du vielleicht, das wäre so einfach gewesen?«
Seine Unterlippe zitterte, als er hinzusetzte: »Und glaubst du vielleicht, es schmerzt mich nicht, die Undankbarkeit meines Volkes zu erleben?«
Orthon brach in ein so unverschämtes Gelächter aus, dass alle erstarrten. Er ließ sich in seinen Sessel sinken, legte die Arme auf die Lehnen und schlug die Beine übereinander. Ocious wurde weiß vor Zorn. Er schien, kaum merklich, zu schwanken.
»Vater, du kannst ruhig allen weismachen, du würdest nur zu ihrem Wohl handeln«, sagte Orthon und wies mit einer abschätzigen Handbewegung auf die Versammlung, »aber mir nicht! Tu doch nicht so, als hieltest du dich für edel und großmütig! Das bist du nie gewesen. Und auch wenn du es nun gern so hindrehen möchtest: Das Volk ist nicht undankbar. Es hat einfach nur begriffen, dass du es all die Jahre bloß benutzt hast, um deine eigenen Ziele zu erreichen und deinen Ehrgeiz zu befriedigen. Und das weißt du ganz genau!«
»Dein Vater ist ein außergewöhnlicher Mann!«, empörte sich einer von Ocious’ Getreuen. »Alles, was er getan hat, hat er für uns, das Volk von Edefia, getan.«
Orthon seufzte demonstrativ, bevor er fortfuhr: Meine Äußerungen mögen hart klingen, aber ich respektiere meinen Vater. Ich respektiere ihn, und ich verstehe ihn. Denn er und ich, wir sind uns in vielerlei Hinsicht ähnlich.«
»Da täuschst du dich gewaltig, Orthon«, mischte sich nun Andreas ein. »Du und Vater, ihr seid absolute Gegensätze. Denk, was du willst, und lass die Aufrührer aus dem Volk sagen, was sie wollen – aber unser Vater hat immer gewisse Prinzipien geachtet, während du weder Skrupel noch Grenzen kennst. Du wirfst ihm vor, ehrgeizig zu sein? Von welchem Ehrgeiz sprichst du denn? Edefia zu verlassen? Es gibt wohl kaum jemanden hier, der nicht ein Mal in seinem Leben den Wunsch verspürt hat, das Da-Draußen zu sehen! Macht? Glaub mir, so schlecht, wie es unserer Welt seit Jahren geht, ist die Herrschaft hier mehr eine Last als ein Privileg.«
Orthon
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